Der Weckruf geht um acht, auch wenn es Sonntag ist, denn die Zeit ist immer knapp. Es ist hell vor dem Fenster, ich lasse das Sonnenlicht durch die Jalousie, und Bär erwacht. Ich mache Kaffee für uns zwei, bringe ihn ans Bett, und wir schlürfen ihn angelehnt an unsere Kissen. Wir greifen beide nach den Büchern. Bär liest in „Daheim“, ich in „Wir hätten uns alles gesagt“. Wir lesen uns vor, aus den Poetikvorlesungen und einem Roman von derselben Autorin, weil es sich so schön ergänzt. Lesen und Versinken, Vorlesen und Lauschen, Gedanken austauschen, dann Weiterlesen und noch mal Versinken, bis einer von uns fragt, „du, darf ich, nur kurz, die ist gut, diese Stelle“ und die andere sagt, „also gut“ und ihr Buch erneut sinken lässt. Wieder Lesung, wieder Lauschen, dann noch mal darüber Sprechen, dann zurück in die Bücher … Wir könnten das noch endlos so weitermachen, den ganzen Vormittag, ach was, bis zum Abend, wären da nicht zwei Organismen, die mehr als einen Kaffee bräuchten. Wir könnten Tage damit verbringen, mit diesem Lesen und Weiterspinnen, wir kämen früher oder später selber ins Schreiben, das läsen wir uns dann auch wieder vor. Das könnten wir machen ein ganzes Leben lang. Aber wollten wir nicht raus? Die Sonne lädt doch ein. Und sollten wir nicht den Nordbalkon schruppen, das Lerchengeländer von den Flechten befreien? Die Pflanzen umtopfen? Weg, ihr Musen, wir stehen auf.
Auf dem Klo liegt ein GEO Spezial über Polens Geschichte. Ich darf es jetzt nicht in die Hände kriegen, nein, ich fass das nicht an, sonst bin ich überwältigt von dem Verlangen, mich dem Thema zu widmen, der Geschichte eines Landes, einer Nation, dem könnte ich mich glatt gleich tagelang widmen, vielleicht ein ganzes Leben. Dasselbe passiert mit einem GEO Spezial über Hitlers Machtergreifung, über die Alpen, über Wale oder Affen, es ist völlig egal. Auch Bär geht es so. Er liest oft auf dem Klo, deutlich länger als ich, er verschwindet darin mit einem Buch oder seinem Notizbuch, er schreibt ein paar Zeilen, manchmal einen Liedtext. Auf uns wartet immer was, was wir noch begreifen wollen, ein Wissen, was wir uns aneignen wollen. Wir haben diesen Drang, über uns hinauszuwachsen, der uns in einem Zustand der Unruhe hält. Immer gibt es auch etwas, was wir ausdrücken wollen, was wir ausdrücken würden, wenn wir es könnten. Ich klopfe Bär regelmäßig aus dem Örtchen heraus.
Wir frühstücken also, weil wir es müssen. Dann gehen wir spazieren, weil unsere aufrechten Körper das von uns verlangen. Dann topfen wir die Pflanzen um, die uns darum bitten, sie lassen schon beleidigt ihr kleine Köpfe hängen. Und da wir schon einmal dabei sind, schruppt Bär auch gleich noch das Geländer vorm Balkon, während ich in der Küche die Süßkartoffeln und Tomaten in die Ofenform schichte. Später widmen wir uns Raupe, die zurückgekehrt ist vom Sippenwochenende. Raupenlaunig sitzt sie am Tisch, ihr Redeschwall schwappt über uns, fragen wir nach, ist sie schlagartig müde. Das eine wie das andere ist großes Theater. Unsere Wohnung ist ihre Bühne und wir sind ihr Publikum. Später falte ich die Wäsche.
Unser Tag geht zu Ende, der für alles zu kurz war. So wie wir gestrickt sind, ist kein Tag lang genug.