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Weiß aus vielen Farben

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In unserem Salon ist gar nichts, wie es sein soll, nach den Reinheitsgeboten der Neofaschisten. Wir sind ein kunterbunter Haufen. Niemand von uns ist in dieser Stadt geboren, in der wir uns kennenlernten. Wir sprechen mehrere Sprachen, manche noch Dialekte. Das Einwandern und Auswandern gehört bei vielen von uns zur Familiengeschichte. Manche sind selbst gewandert oder die Eltern, mit ihnen als kleine Knöpfe. Oder ein Großelternteil machte sich auf den Weg, irgendein Ahne. Wer wandert, muss wach sein, sich verständigen können, sich orientieren. Das hat dazu geführt, dass viele von uns sehr weltgewandt sind, freiheitsliebend, anpassungsfähig.

Wir mögen keine Zäune und Schranken, unser Denken ist flüssig, gasförmig manchmal und immer unterwegs. Wir sind nicht mit dem Boden verwachsen, auf dem wir laufen lernten. Wir haben Füße statt Wurzeln. Wir sind alle nur Gäste. Das Wandern und Reisen gehört zu uns wie zu den Schwalben, den Buckelwalen, den Gnus und Kröten und Wanderlibellen. Unsere Neigungen sind: Entdecken und Staunen, schnelles Kofferpacken, Neues gestalten. Wir wollen uns erweitern, um vollkommener zu lieben. Unsere Hände erzeugen Wärme mit anderen Händen. Wir umarmen uns fest, um uns wieder freizulassen. Aus Fremden machen wir Freunde, das ist uns am liebsten. Home is where our heart beat. Wir singen zur Gitarre und tanzen, statt auf der Stelle zu stehen. Wir sind gekommen, um unser Glück zu finden, und wir werden wieder gehen.   

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In unserem Salon trifft sich ein weißer Haufen. Doch was jede und jeden ausmacht, welche Vielfalt in uns steckt und welches Erbe wir tragen, ist nicht gleich zu erkennen. Weiß enthält viele Farben. Und unter der Haut verbergen sich die Geschichten, Familiengeschichten, die von Krieg und Flucht und Vertreibung erzählen. Nur weil wir Deutsche sind, zufällig gegenwärtig diesem Staat angehören oder hier in Deutschland leben, heißt das mitnichten, dass es auch bei unseren Ahnen schon immer so war.

Unter uns ist Mathias, ein Nachfahre der sogenannten Donauschwaben, die vor dreihundert Jahren das Schwabenländle verließen, um sich in der Vojvodina neu anzusiedeln, das damals ungarisch war und heute in Serbien liegt. Dort würden sie vermutlich noch immer glücklich leben, ihre Kinder und Kindeskinder, wenn nicht Hitler und seine Schergen Krieg und Verderben in die Welt gebracht hätten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Donauschwaben, weil sie deutschstämmig waren, aus Serbien vertrieben. So wuchs Mathias unter Schwaben, die deutsch und ungarisch sprachen, in Böblingen auf.

Unter uns ist Kaja, die Tochter von sogenannten Russlanddeutschen, die wegen ihres Glaubens, – sie sind Mennoniten -, und weil sie deutschstämmig waren, in der Sowjetunion so lange drangsaliert worden waren, bis sie schließlich, vor etwa vierzig Jahren, mit ihren Kindern nach Deutschland emigrierten. Sie kamen zurück in ein Land, das sie schuldbewusst aufnahm. Von Ostfriesland aus waren ihre Vorfahren zweihundert Jahre zuvor aufgebrochen, um endlich in Freiheit ihren Glauben zu leben, im Siedlungsgebiet nahe des Uralgebirges, in das Katharina, die Große sie eingeladen hatte.

Unter uns sind Kamui und Gisela, zwei Frauen, die als Kleinkinder kurz vor dem Mauerbau im Jahr 1961 auf den Armen ihrer Eltern in den Westen „rübermachten“. Wie nennen wir sie? Innerdeutsche Flüchtlingskinder? Heute Doppeldeutsche?

Unter uns ist Mona, die Enkelin eines Glücksuchers, der in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts aus dem verarmten Ostpreußen nach Argentinien aufbrach, das nach dem Ersten Weltkrieg ein gelobtes, reiches Land war. Wohlhabend geworden kehrte der Mann voller Hoffnung nach Europa zurück, verliebte sich in eine Wienerin, die ihm einen Sohn gebar. Schon brach der Zweite Weltkrieg aus, der ihn und die Familie erneut zur Flucht zwang. Zurück in Argentinien verstarb die Mutter seines Sohnes, der nun alleine bei ihm aufwuchs und später Monas Vater wurde. In Buenos Aires geboren wuchs Mona in einer deutschen Community auf. Doch im Zuge der Wirtschaftskrise verließen Mona und ihre Schwester, schließlich auch ihre Eltern das verarmte Argentinien. Mona lebt in Berlin mit zwei Staatsbürgerschaften, sie ist Bürgerin von Argentinien und Österreich.

Unter uns ist auch Bär, dessen Vorfahren 1731 von katholischen Erzbischöfen aus dem Pongau in Österreich vertrieben wurden, weil sie protestantisch waren. Sie gehörten zu 20.000 Knechten und Mägden und besitzenden Bauern, die eine neue Heimat in Ostpreußen fanden. Und was vor ihnen schon die umgesiedelten Donauschwaben taten, die vertriebenen Mennoniten, die DDR-Flüchtigen und der Wirtschaftsflüchtling in den Zwanzigerjahren, das taten auch sie. Sie fingen noch mal von vorne an, notgedrungen optimistisch. Als unermüdlich fleißig, effizient und begabt galten sie in Ostpreußen, sie bestellten die Felder und bauten neue Häuser, neue Gutshöfe auf. Bis Hitlers Krieg auch ihr Werk zunichte machte. Die Nachkommen der Vertriebenen aus dem Pongau hatten wieder keine Wahl. Als die Rote Armee die deutschen Truppen vor sich hertrieb, im Januar 1945, mussten sie, mit wenig Habseligkeiten auf Handkarren, fliehen.

Solche Geschichten schreiben sich in uns ein, in unseren Charakter und unsere Sicht auf die Welt. Und wem das eingeschrieben wurde, der hängt mehr an den Menschen und nicht so sehr an einem Ort, dem bedeuten Freiheit und Frieden sehr viel.

Wir sind etwa zwölf in unserem Salon, und nur wenige von uns haben einen von Sesshaftigkeit geprägten, einen ortsgebundenen Familienhintergrund, wie ich einen habe. Ich stamme aus Baden, dem Südwesten von Deutschland, und soweit ich meinen Stammbaum zurückverfolgen kann, blieb meinen Ahnen Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat erspart.

Womöglich schieben die Neofaschisten, die im Geiste schon an kleinen Tischen vor ordentlich geführten Listen sitzen, um die Bevölkerung auseinander zu sortieren, mich zu ihresgleichen hin, zu jenen Auserwählten, die Bleiberecht auf deutschem Boden genießen. Was ein Grund für mich wäre, meinen Pass abzugeben. Oder ihn zu fälschen. 

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Ich will auf gar keinen Fall eine von den siebenfach erblich verbrieften Deutschdeutschen sein. Meine väterliche Linie jedoch nagelt mich fest an die Schwarzwälder Krume. Bis ins 18. Jahrhundert reicht die Ahnenreihe meines Vaters im Sippenbuch seiner Heimatgemeinde zurück. Sie beginnt mit dem Vogt auf einem Vogtsbauernhof, als ob der Vogt und sein Hof eines Tages aus der Erde herausgewachsen wären, die er und sein Gesinde dann bewirtschaftet haben. So kann es nicht gewesen sein. Ein paar Schritte muss einer vor ihm schon mal gegangen sein. Bevor das Dorf gegründet wurde, das dem Vogt unterstand, war da ja nichts und niemand. Muss also jemand von irgendwoher, über diesen oder jenen Berg, losgezogen sein von einem anderen Tal, wo alles schon verteilt war, wo es womöglich etwas eng und ungemütlich wurde. Wahrscheinlich schickte ein Fürst, der das Land erobert hatte, auf dem später das Dorf meines Vaters entstand, oder ein Klostervorstand einen fähigen, energischen, verlässlichen Mannskerl, um den Vogtshof zu bauen und das Land zu bestellen, Recht zu sprechen und zu verwalten. Mit Erobern und Besiedeln hat man Herrschaftsgebiete schon immer erweitert. Oder mit Erobern, dem Vertreiben der Hiesigen und der Neubesiedlung mit den eigenen Leuten. Heute träumen so manche wieder davon.  

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Was für Zeiten. Ich müsste ständig Crunchymüsli essen oder Chips, weil mich das laute Zerknacken beruhigt. Hochprozentige Schokolade für die Ankurbelung der Endorphine-Produktion. Dann wieder sprinten, um Testosteron auszuschütten, weil ich fit bleiben muss, sprungbereit, bereit für die Flucht, die Tatkraft erfordern wird. Wann ist es so weit?

Noch baumeln die Lichterketten an unserem Balkon. Noch können wir sagen, der Balkon da draußen ist unserer, wir werden ihn im Frühjahr wieder begrünen. Die überwinterten Pflanzen werden austreiben, ich werfe Polster auf die Stühle, und wir frühstücken draußen, so wie immer die letzten Jahre.

Bei der Grundsteinlegung für unser Mehrfamilienhaus wurde das Manuskript eines meiner Hörspiele in die Kiste gelegt und zusammen mit den Plänen und den Namen der Familien, die zur Baugemeinschaft gehörten, in der Baugrube versenkt. In dem Hörspiel verspottete ich den Appell der deutschen Regierung. Wir sollten uns dringend alle zusatzversichern, um unsere schrumpfenden Renten in Zukunft aufzustocken. Ich hielt diese Versicherungen für einen Witz und verspottete ebenso die Alternative, das Investieren in Immobilien. Ich inszenierte einen Erdrutsch, der das Haus meiner Protagonisten von seiner Hanglage riss. Ich ulkte über das, was wir wenig später taten.

Bär und ich schlossen, artig wie die meisten, je eine solche Versicherung ab. Etwas später bauten wir ein Haus mit zehn anderen Familien. Als Bär und ich die Kreditverträge 2008 vor uns auf dem Tisch liegen hatten und uns ein wenig schlecht geworden war, weil wir noch nie mit derartigen Geldsummen umgegangen waren, mit Schulden zu leben uns gefährlich und befremdlich erschien, fiel plötzlich der Strom aus. Wir unterschrieben bei Kerzenlicht und beruhigten uns mit Rotwein. Kurz davor war Lehmann Brothers, einer der weltgrößten Investmentbanken, pleite gegangen.

Inzwischen sind die Kredite getilgt, nicht ein Quadratmeter davon gehört noch der Bank. Die Lage ist günstig. Straßenbahnen, U-Bahn, der S-Bahn-Ring, wir kommen mit den Öffis überall bequem hin. Biosupermärkte gibt es an jeder Ecke, Cafés, Restaurants, behagliche Läden, Spätis, Ärztezentren…, trotzdem wohnen wir ruhig. Wir haben einen Garten mit einem Gartenhaus, der sich verbindet mit sechs weiteren Gärten. Vorne vor dem Haus ist der Eingangsbereich von zwei Rabatten flankiert. Wir haben Straßenbäume. Wir können von allen Fenstern über den Dächern den Morgen- und Mittag- und Abendhimmel sehen. Auf dem Boden liegt Parkett, wir haben keine Schwellen. In den Fahrstuhl passen eine Transportliege quer und ein Sarg auf vier Rädern. Wir könnten hier bleiben bis zu unseren letzten Tagen.

Aber können wir das?

Würden wir bleiben, wenn die Autokraten und Rechtsextremen um uns herum die Macht übernähmen?  Wenn uns der Krieg erreichen würde?  Sollte nicht längst ein Koffer bereitstehen, mit dem Wichtigsten drin, damit wir, in Migrantenschnelligkeit, uns davon machen können? Wohin könnten wir fliehen? Und bevor wir flüchten müssten, wäre es nicht besser, planvoll umzusiedeln? Sollten wir unsere Wohnung nicht jetzt schon verkaufen, bevor das Chaos herrschen wird? Sollten wir nicht gleich in den Schwarzwald umziehen, ins Haus meiner Mutter?  Das Dorf, in dem es steht, blieb von den beiden großen Kriegen des letzten Jahrhunderts weitestgehend verschont.

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In unseren Zeiten kreisen meine Gedanken wie ein Zugvogelschwarm, der keine Peilung mehr hat. Wir haben Krieg in Europa, der Frieden ist zerstört, unsere Freiheit bedroht, die schon lange keine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit mehr ist. Wir müssen dringend aufrüsten, sagen die Experten. Wir brauchen mehr Waffen. Wir brauchen mehr Munition. Autos war gestern, heute bauen wir Panzer. Unser Verteidigungsminister will uns kriegstüchtig machen. Er und seine Kollegen aus den baltischen Staaten, aus Schweden und Finnland, aus ganz Europa und der Nato appellieren an uns Bürger*innen mit einer Stimme: Seid bereit für den Krieg. In fünf bis acht Jahren könnten Putins Waffen auch auf unsere Städte fallen, Schulen und Kitas, unsere Kraftwerke und Krankenhäuser und Brücken zerstören, uns auf den Straßen und in unseren Häusern töten. Uns im Innersten treffen. Uns terrorisieren. Die Nato übt mit Großmanövern den Verteidigungsfall bei einem Angriff von Russland. Mittelstreckenraketen werden wieder stationiert mit nuklearen Sprengköpfen, wie nach dem Nato-Doppelbeschluss. Vielleicht wanken wir darauf zu, auf die große Vernichtung. Auf den Zweiten Kalten Krieg oder auf den Dritten Weltkrieg.

Ich stelle mir Deutschland 2030 oder 2033 vor, hundert Jahre nach der Machtergreifung Hitlers. Wenn wir es bis dahin geschafft haben sollten, die Neofaschisten in Deutschland und Frankreich, Dänemark und Italien (usw.) zu stoppen, dann wird unsere Demokratie vor allem noch immer durch Putin bedroht sein. So wird uns prophezeit. Dann wird er seinen Krieg ausweiten, um sie (die größte Feindin des Tyrannen) zu zerschlagen. Wer im Fliehen und Wandern geübt ist, wird seinen wichtigsten Koffer, der immer bereitstand, nehmen und gehen. Die mit einer zweiten Heimat haben dann einen Vorteil und darüber muss ich schmunzeln. Die Neofaschisten, die ihr Deutschsein hochhalten, werden sich in der deutschen Erde verschanzen. Von Eingewanderten und den Expads, von jenen mit zwei Pässen werden viele das Land verlassen.

Mona wird vermutlich nach Argentinien emigrieren, mit ihren beiden schönen Söhnen, sollte sich der Krieg Russlands auf Westeuropa und die Nato ausweiten. Kaja wird mit ihrer Tochter nach Kanada fliehen, zu ihrem Bruder und seiner Familie. Oder zu Freunden in die USA, mit denen sie seit ihrem Austauschjahr vor fast dreißig Jahren noch immer Kontakt hält. All jene mit Freunden außerhalb Europas können sich dann in Sicherheit bringen. Ob uns unsere Schweizer Freunde aufnähmen?

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Wie geschichtsvergessen diese Rechtsextremen sind. Sie reden von Deutschland, als hätte es diesen Staat mit seinen heutigen Grenzen schon immer gegeben. Sie reden vom deutschen Volk, als wären wir zwischen Oder und Rhein, zwischen Nord- und Ostsee und den Alpen wie Pilze aus dem Boden gesprossen. Als wären wir Deutsche alle gleich, Stiele mit braunen Köpfen aus einem dunklen Hallimaschgeflecht, welches seit Tausenden von Jahren in diesem Boden heimisch ist und ihn unsichtbar beherrscht. Als wären wir wie so ein Hallimasch das älteste und größte und daher wichtigste Lebewesen auf der Welt, mindestens aber im deutschen Boden, unbeeinflusst von außen, unveränderlich und autonom. Als hätte es die Keltinnen und Kelten, die Römerinnen und Römer, die Hunnen und die Völkerwanderung, ein Durchzug, ein Wandern und Besiedeln, ein Fremdsein und Heimischwerden nicht schon immer gegeben.

Seit die Neofaschisten mit kalten grauen Augen unablässig betonen, wie sehr sie Deutschland lieben würden, wie sehr sie sich darum sorgen, um dieses schöne Land und seine Kultur, und ihr falsches Flötenspiel eine Gefolgschaft hinter sich schart, die erschreckend anwächst, sind mir die Begriffe Nation oder Herkunft zuwider, sie sind in den Schmutz gezogen. Mit ihnen will man uns spalten.

Ich war nie stolz auf mein Deutschsein, so wie die Neofaschisten es sind. Wie kann jemand stolz sein auf seine Geburt, auf ein Schicksal, einen Zufall? Wie kannst du stolz sein auf etwas, worauf du nicht den geringsten Einfluss hattest, wofür du dich nicht die Bohne angestrengt hast?

Ich war nicht stolz, aber dankbar, und das bin ich noch immer, dass ich in Deutschland geboren wurde, in einer jungen, von alliierten Siegermächten überwachten, aber vorbildlichen und stabilen Demokratie, dass ich aufwachsen durfte in einem der reichsten und sichersten Länder auf dieser Erde. Ich bin dankbar, dass mir dieses Land ermöglicht hat, mein Abitur nachzuholen und zu studieren. Dass mir Geld geschenkt wurde, um mich zu bilden. Dieser Dank geht besonders an Willy Brandt und die Sozialdemokraten! Dankeschön, Willy!! Ich gehöre zu denen, die weder Krieg noch Vertreibung noch die Repressalien einer Diktatur am eigenen Leib erfahren mussten. Ich kenne nur ein Leben in Frieden und Freiheit. Ich bin außerdem dankbar, dass ich als Frau für meine Rechte kämpfen darf und wir als Gesellschaft uns in Toleranz und Mitgefühl üben. Never ever war ich stolz auf meine Herkunft oder mein Blut. Ich habe mich, als mich Politik zu interessieren begann, vor allem Europa verbunden gefühlt. Darin sehe ich mich. Dafür würde ich kämpfen.

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Im Heimatbuch des Dorfes, in dem mein Vater aufwuchs, lässt sich seine väterliche Sippschaft, die einem Vogtshof zugeordnet ist, bis ins Jahr 1783 zurückverfolgen. Auch die Vorfahren meiner Mutter, die ich väterlicherseits bis zu meinem Urgroßvater nacherzählen kann, – sie lebten auf einem Bauernhof auf einem Hügel bei Lahr -, würden die Neofaschisten als voll-deutsch akzeptieren. Bei den Vorfahren meiner Großmütter stoße ich ebenfalls nur auf Deutsche, alles Leute aus Baden. Das macht mich, ob mir das passt oder nicht, zu einem Spross einer echten deutschen Eiche. Vielleicht sollte ich mich, wenn es schon so ist, für die höheren Ämter bewerben, wenn es zu einem Machtwechsel kommt, mich heldenhaft opfern, als V-Frau einschleusen, um bei den Neofaschisten Sabotage zu betreiben. Vielleicht ließe sich so das Blatt nochmal wenden, wenn Leute wie ich ihren Stammbaum als Tarnung nutzen würden. Wenn ich aber Hö oder Wei reden höre, (oder wie sie alle heißen mögen), ihre verächtlich verzerrten Mundwinkel und ihre eisblauen Augen sehe, die mit Hass gefüllt sind, wenn sie ihre Hetze und ihren Geifer verbreiten, wird mir sterbensschlecht. Ich hätte, wäre ich täglich von solchen Leuten umgeben, in kürzester Zeit ein Magengeschwür. Völlig vergeblich hätte ich, seit ich es mir leisten kann, biologisch unbedenkliches Gemüse gegessen, Yoga und Wirbelsäulengymnastik gemacht und damit jahrelang in meine wichtigste Aktie Gesundheit investiert. Ich würde krepieren.

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Noch mal zu meinem Stammbaum, der wie jeder andere Stammbaum auf eine Rolle Papier passt. Ein Stammbaum ist ein Baum mit vielen Zweigen, die sich weiter verästeln, aber es ist eben nur ein Stamm, ein Baum ohne Wurzeln. Keiner weiß, von wo der Samen dieses Stammes einmal her geweht wurde, irgendwo verlieren sich immer die Spuren. Das Sippenbuch sagt mir nur, dass anno 1783 die Geburt von einem Anselm O, eines männlichen Vorfahren väterlicherseits von einer Amtsperson registriert worden ist. Dieser Anselm O wird im Sippenbuch als Bauer und Bürger und Vogt tituliert, dem der Vogtsbauernhof, den meine Großeltern noch betrieben, seinen Namen verdankt. Woher Anselms Eltern kamen und woher deren Eltern stammten (und immer so weiter) ist nicht verzeichnet. Auch ist nicht überliefert, wann der große Bauernhof gegründet worden ist und was da vorher einmal war. Das gibt mir Hoffnung, dass ich doch eines Tages noch erzählen kann: Schaut her, da steht‘s geschrieben, hier wurde emigriert. Ein fremder Mensch ist gekommen, über Berg und Tal, und heimisch geworden.

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Tausend Jahre vor Christi Geburt war der Schwarzwald ein dunkler dichter Urwald, die bewaldeten Höhen waren nicht besiedelt, nur die Täler wurden von einzelnen Wanderern und Sippen durchstreift. Dann kamen die Kelten, Keltinnen sicher auch, die im Gestein nach Metallen, besonders Eisenerz suchten. Mit Hilfe von Phöniziern, womöglich auch phönizischen Frauen, aus dem Mittelmeerraum, die sich mit dem Abbau von Erzen, mit Eisengewinnung und dem Schmieden von Waffen besser auskannten, entwickelten sich die Keltinnen und Kelten zu einer Hochkultur auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwälder Raum, die für ihre Zeit sehr fortschrittlich war. Die Menschheitsgeschichte ist aber leider eine Serie von Kriegen und Rachefeldzügen mit nur kurzen Friedenspausen. Römische Legionen mit ihren Streitwagen eroberten unter Caesar Gallien und das südliche Germanien. Römische Soldaten, ihre Frauen und Kinder, ihre Sklaven und Prostituierten lebten in den Lagern der besetzten Gebiete. Sie bauten eine Römerstraße vom Rhein bis an die Donau und unterwarfen und verdrängten die Kelten, sicher vermischten sich auch die Kulturen. Alemannen, eine westgermanische Volksgruppe, auch Sueben genannt, von Norden und Osten kommend, vertrieben später die Römer, (sicher kamen auch sie mit ihren Frauen und Kindern), bis schließlich auch die Alemannen besiegt worden waren und sich unterwerfen mussten. Nun regierten die Franken, das Geschlecht der Karolinger.

Jahrhundertelang wurden Erze abgebaut und Silberminen im Schwarzwald erschlossen, wofür man Bergbauarbeiter einstellen musste, später wurde aus den Quarzvorkommen Glas hergestellt. Dafür wurde Holz gebraucht, Unmengen Holz, zu Kohle verdichtet. Für den Holzschlag warb man Holzfäller an, in Tirol und dem Salzburger Land. Tausende kamen, weil man ihnen Land versprach, das sie bewirtschaften und auf dem sie sich für immer niederlassen konnten. Auch brauchte man Köhler, die zu den Schmutzigen gehörten, immer an den Waldrändern in Blockhütten hausten und lange Zeit nicht ansässig wurden. Glasmacher waren ebenfalls gefragt, die aus Norddeutschland und Böhmen anreisten. Glasträger wurden benötigt, die das Glas über die Berge zu den Abnehmern trugen und später, als man auch Uhren in Masse herstellte, trugen sie auch diese. Ab dem 8. Jahrhundert unterstellte der fränkische Adel sein Land vermehrt irischen Wandermönchen, den Benediktinern, die Klöster errichteten und die Ländereien durch Vogteien verwalten und bewirtschaften ließen. Ab dem 15. Jahrhundert wurden auf den gerodeten Flächen der Klöster und Fürsten große Eindachbauernhöfe gebaut, von denen viele noch heute erhalten sind. Diese Schwarzwälder Höfe mit ihren tief gezogenen Dächern, unter denen Mensch und Tier und Futter und Vorrat Platz finden konnten, die in den Tälern meist in leichter Hanglage stehen, im Abstand von 300, 400 Metern, stammen architektonisch aber so wenig aus dem Schwarzwald wie seine heutigen Bewohner*innen als Hallimasch-Pilze dort wuchsen. Ihre Bauweise geht auf die Bauernhöfe in der Alpenrhein-Region, die heute in der Schweiz liegt, zurück.

Es ist also möglich, dass die Vorfahren von Anselm O, dem Vogt von Schweighausen, aus dem Salzburger Land oder aus Tirol kamen, dass sie Holzfäller waren, die im Mittelalter angeworben wurden. Mein Opa war Waldarbeiter im Gemeinde- und Staatswald, später Holzgutachter für eine große Sägerei, mein Vater war Tischler. Sie hatten beide Holzberufe. Es ist außerdem möglich, dass in unseren Adern, abgesehen vom alemannischen, noch Frankenblut fließt, außerdem das der Hunninnen und Hunnen, Römerinnen und Römer, der Keltinnen und Kelten.

Da haben wir es. Ich muss nicht unglücklich werden. Ganz egal, was im Pass steht, unter Nationalität, ich bin Europa. Wie die Planeten und Meteoriten und Sonnen unseres Universums aus den gleichen Elementen zusammengesetzt sind, so bin auch ich ein kleines Tröpfchen eines bunten Genpools der Menschheitsgeschichte.

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