Gestern Morgen rief mich ein Freund an, einer aus dem letzten Jahrhundert, was du daran erkennst, dass er es immer zuerst übers Festnetz probiert. Mein Freund ist freier Journalist, Perkussionist, Komponist und Feature-Autor, vor allem aber ist er mit Blick auf das Klima, mit Blick auf die Kriege, mit Blick auf die Weltpolitik dauernd echauffiert, an diesem Morgen fassungslos. Sicher hat er sich wie früher vom Inforadio des RBB aus dem Schlaf holen lassen. Ich habe mal mit ihm zusammengewohnt (wir waren eine WG Anfang des Jahrhunderts), weshalb ich das vermute. Neben seinem Futon steht ein schwarzer Radiowecker, der ihn beim Erwachen sofort mit allem versorgt, was es an schlechten Nachrichten gibt. Die hört sich mein alter Freund Morgen für Morgen eine lange Weile an, in Wiederholungsschleifen, bevor er sich gerädert von seinem Futon erhebt und missgelaunt zur Küche schlurft. Die schlechten Nachrichten sind mit Namen verbunden, die du schon nicht mehr hören magst. Putin und Orban, Weidel und Xi, Erdogan, Kickl und Trump, um nur einige zu nennen. Hören wir ihre Namen, erfasst uns Wut und Unbehagen.
Jetzt will Trump Grönland kaufen, was er schon einmal wollte, in seiner letzten Amtszeit, erzählt mein Freund durchs Telefon, mit lautem Entsetzen, das Land der Inuit, das noch zu Dänemark gehört und unabhängig werden will. Der wird die erpressen, wenn die sich nicht kaufen lassen, erklärt mir der Freund, weil ich nicht ganz up-to-date bin. Auch Kanada will der den USA einverleiben, regt er sich weiter auf, und den Panama-Kanal will der auch wiederhaben, den Panama seit über 25 Jahren selbst verwalten darf. Sein Anruf erwischt mich kalt, ich sitze gerade vor auseinander sortierten Belegen für die Steuererklärung, mein Horizont ist begrenzt. Ich komme nicht gleich in Fahrt mit meiner Empörung. Das sei doch verrückt, ruft mein Freund ins Telefon, etwas sei auf der Welt aus dem Ruder gelaufen, so etwas habe es noch nie gegeben. Wirklich, frage ich. Hat er recht, denke ich, und kann nicht widersprechen. Imperialismus ist nichts Neues, hätte ich sagen können, doch das fiel mir nicht ein. Der hat sich nur wenige Jahre versteckt gehalten und zeigt jetzt wieder unverhohlen sein dreistes Gesicht. Aber hätte ich das gesagt, hätte das auch nichts besser gemacht. So was habe es noch nie gegeben, ruft mein Freund durch den Hörer, noch ein paar Mal ruft er das, das wisse er ganz genau, er habe schließlich Geschichte studiert. Das ist doch ein Alptraum, wie aus Demokratien plötzlich, über Nacht, Diktaturen werden können, Autokratien, wie eine Mafia aus Superreichen und Nationalisten uns inzwischen von allen Seiten umzingelt, macht mein Freund sich weiter Luft. Das habe er so noch nie erlebt. Er ist nicht nur entrüstet, er klingt verzagt und verzweifelt. Alles, was er gemacht habe, seine politischen Features und die Jazz-Konzerte mit seinen Bands, alles sei vergeblich und sinnlos gewesen. Trotzdem kannst du nur tun, wovon du überzeugt bist. Also wirst du weitermachen, sage ich, um ihn etwas zu trösten. Ja, sagt er etwas ruhiger, das mach ich, mach ich sowieso. Dass ich nicht so geschockt bin wie er, liegt wahrscheinlich daran, dass ich mir das nicht erlaube. Dass ich mich ganz bewusst dagegen entscheide. Wir haben Raupe bei uns. Ein Kind zu haben kann helfen, immer ein trotziges „Dennoch“ zu denken. Schon ihretwegen bleiben wir zuversichtlich und machen stoisch weiter mit dem, was wir für richtig halten.
Vor mir liegt der Papierkram meines Lebens, bescheidene Zahlen stehen auf den Belegen. Messe ich mich mit finanziellen Maßstäben, muss ich eingestehen, ich habe nicht viel erreicht. Ich habe keine Macht erworben, die sich auf Reichtum gründet. Ich habe nichts mit einem Musk oder Zuckerberg gemein, und das, was ich geschrieben habe, hat ebenfalls nicht verhindert, was uns jetzt gefährlich wird. Wir haben, sage ich zu meinem Freund, uns unsere Geschichten selbst erzählt, uns um uns selber gedreht. Draußen regnet es Schnee, und ich habe kalte Füße. Bei uns funktioniert die Heizung nicht mehr.