Vor fast zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann der Angriffskrieg in der Ukraine. Seither bombardieren russische Soldaten ihr Nachbarland, seither schießt und wühlt sich die russische Artillerie durch ukrainischen Boden, zerstören russische Drohnen ukrainische Städte und Infrastruktur, zerstören ukrainische Drohnen auch Ziele in Russland. Tagtäglich sterben Menschen, werden Kinder verschleppt und Frauen vergewaltigt. Auf beiden Seiten sind nach Schätzungen westlicher Geheimdienste bislang rund 500.000 Soldaten verletzt oder getötet worden.
Auch wir rüsten auf. In den Talkshows, dem Stammtisch der Nation, wird ganz selbstverständlich vom Schützenpanzer Marder und dem Gepard Flugabwehrpanzer, von Haubitzen und Späh-Panzern, Minenräumpanzern und Brückenlegepanzern, vom Leopard Zwei, von Luftabwehrsystemen und Drohnen gesprochen, die die Ukraine von uns brauchen, von Lieferengpässen bei der Munition, von unserer Demokratie, die sich im Osten Europas gegen Putin verteidigt, von unserer Freiheit, die dort auf dem Spiel steht.
Diese Freiheit war groß und sie ist es noch immer.
In Freiheit zu leben, ermöglichte uns, uns neu zu erfinden. Wer wir sind, und wie wir sind. Bin ich Mann oder Frau oder etwas dazwischen. Wie gestalten wir Familien. Wie definieren wir Arbeit und Freizeit. Wie designen wir unsere Wohnung, unser Haus, unsere Städte. In welche Länder reisen wir. Wie gehen wir mit den Unterschieden um. Das Recht der freien Entfaltung ist ein hohes Gut, es ist im Grundgesetz verankert. Die Freiheit der letzten 75 Jahre hat uns dazu erzogen, Toleranz zu entwickeln für die Buntheit des Lebens.
In der Provinz der BRD, in der ich aufwuchs, waren die jungen Männer, die sich statt für den Bundeswehrdienst für Zivildienst entschieden, noch die Minderheit. Das war in den 70er und 80er Jahren, in der Zeit des Kalten Krieges. Die meisten gingen zum Bund, wo die bellenden Befehle der Unteroffiziere ihren Gehorsam, ihren Gleichschritt, bedingungslose Einsatzbereitschaft, die millimetergenaue Ordnung in ihrem Spint, den Umgang mit einem Sturmgewehr und Maschinengewehr, einer Panzerfaust, einem Nebeltopf, mit Handgranaten und dergleichen verlangten.
Mein Jugendfreund wurde zu einem Panzergrenadier ausgebildet. Ich wusste damals nicht, was das bedeutet und mit ihm machen würde. Er war in Lahnstein stationiert, kam nur selten nach Hause, in seinen wenigen Briefen klang er oft deprimiert. Er hasste den Drill, die Gefechtsübungen im Gelände, das Stellung halten müssen in einem Erdloch, das Wache stehen müssen, die Kälte und den Dreck, wogegen er als Soldat immun werden sollte. Er schrieb, die wollen uns brechen. Zweifel seien verboten. Als Soldat habe man kampfbereit, ein guter Kamerad, vor allem aber todesmutig zu sein. Wenn er Heimaturlaub hatte, rauchte er Kette und trank noch mehr Alkohol als schon zuvor. War er betrunken, wurde er aggressiv. Er brauste wegen Kleinigkeiten auf. Schon ein Auto, das nach seinem Ermessen zu langsam vor ihm herfuhr, machte ihn rasend. Einmal überholte er ein Fahrzeug, um es dann daran zu hindern weiterzufahren. Mit geballten Fäusten stieg er aus, beschimpfte und bedrohte den erschrockenen Fahrer. Er wurde mir immer fremder.
Etwa zehn Jahre später, in den 90er Jahren, kannte ich immer mehr Männer, die Zivildienst gemacht, in Altenheimen Essen ausgefahren, in Krankenhäusern den Müll entsorgt, in Behindertenwerkstätten ausgeholfen hatten. Ihre Kleidung lag weniger geordnet in ihren Schränken, ihre Schuhe waren seltener auf Hochglanz gebürstet. Sie hatten nicht gelernt, mit einer Waffe umzugehen, hatten kein starres Feindbild im Kopf, strahlten auch keinen Todesmut aus. Dafür liebte ich sie. Wusste aber auch: Sie könnten uns Frauen, ihre Kinder und Partner*innen nicht besser beschützen, als wir uns selbst beschützen würden. Sie haben ihren Kindern die Windeln gewechselt, sie wollten sie füttern, mit ihnen spielen, sie aufwachsen sehen. Mehr als alle vor ihnen wollten sie als Väter endlich anwesend sein. Sie wollten lieben, nicht töten.
Raupe bevorzugte als Baby Bärs Bauch, ein weiches warmes Kissen, auf dem war sie am besten und schnellsten eingeschlafen. Bei ihrem Papa fühlte sie sich sicher und geborgen, und das ist bis heute so. Bär machte sie stark, weil er die Zeit mit ihr teilte, die es nun einmal braucht, um eine Bindung aufzubauen. Das höchste Gut auf dieser Erde hat er ihr geschenkt: grenzenloses Vertrauen, das niemand mehr zerstören kann.
Ihr Papa ist kein Rambo. Er ist manchmal menschenscheu, verlegen, etwas schüchtern, aber das macht nichts. Ihr Papa geht joggen, seine Beine sind stramm, seine Arme untrainiert. Er verachtet Muckibuden. Er backt gerne Kuchen.