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Vorbeigerauscht

Ich denke an meine Mutter, die nicht wie ich schreiben muss und die doch jetzt, wo sie über 70 ist, sagt, dass die Zeit vor der Ehe und die Rentenzeit die besten Zeiten sind, weil man da zu sich selbst kommen würde.

Sie beschreibt ihre Ehe- und Arbeitsjahre, die Zeit, in der das Haus gebaut und gespart wurde und kaum Zeit zum Luftholen blieb, als vertane Zeit. Diese Zeit wäre an ihr vorbeigerauscht, wie nicht gelebt klingt das, wenn sie darüber spricht, sie habe nur funktioniert, sagt sie oft und ich erinnere mich, wie sie gegen halb fünf meistens nach Hause kam und sich bei einer Tasse Kaffee eine Weile am Küchentisch ausgeruht hat, mit einer Zeitung, durch die sie geblättert hat und dann ging’s auch schon weiter, dann hat sie gekocht, sich um den Garten, die Wäsche, die Wohnung gekümmert und dann nach dem Essen, das oft sehr spät fertig wurde, die Küche in Ordnung gebracht. Gegen neun, halb zehn tauchte sie dann nochmals im Esszimmer auf, wo der Fernseher lief, setzte sich auf die Eckbank und es dauerte nicht lang, da fielen ihr auch schon die Augen zu. Sie war die erste, die morgens aufstand und für alle Frühstück und Vesperbrote bereit hielt… es gab keine Zeit für Gespräche, für längere Blicke, für Fragen, die über den Alltag hinaus gegangen wären. Es gab keine Aufmerksamkeit für Gefühle.

Meine Mutter ist eine einfache Frau, sie hat nur acht Klassen auf einer Dorfschule besucht, eine kaufmännische Ausbildung gemacht und später auf einem Büro gearbeitet. Sie ist klug, aber nur bedingt gebildet und trotzdem hat sie dieses Beisichsein als etwas formuliert, was ihr wichtig ist und was sie jetzt, da sie Zeit dafür hat, genießt. Beisichsein heißt für sie, Zeit zu haben, nichts zu tun, heißt für sie Beten, Mittagsschläfchen machen, unten am Teich sitzen, spazieren gehen, Musik hören, im Kirchenchor singen, ihre Gymnastik in der Frauengruppe machen, heißt Zeit zu haben für Gespräche, um zu lesen und nachzudenken. Seit sie diese Zeit hat, hat sie auch mehr Zeit für mich und sicherlich auch für ihre andere Tochter und Enkeltochter und all ihre Nächsten. Dreißig Jahre ihres Arbeitslebens hat sie das vermisst. 

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