Es war im Sommer 2023, als ich unser Verhalten nachvollziehbar, aber merkwürdig fand. Die Corona-Pandemie war im April vom Bundesgesundheitsminister für beendet erklärt worden, was für uns alle ein Befreiungsschlag war. Wir hatten geschluckt, dass der Krieg in der Ukraine ein zermürbender werden würde, wir hatten Angst vor diesem Krieg und gewöhnten uns daran. Wir klagten über die Inflation, waren aber erleichtert, dass wir nicht erfroren waren ohne russisches Gas. Im Krisenmodus zu sein, und das über Jahre, hatte uns zugesetzt. Wir waren erschöpft. Dass noch kein Kraut gewachsen war gegen Nationalismus und Neofaschismus, war (und ist) deprimierend. Wir waren entsetzt, dass sich die Meere aufheizten und das Wetter kollabierte. Wir waren ausgezehrt, unser Kampfgeist für das Gute war bei vielen ermüdet. So erlebte ich uns in unserer kuschelweichen Bubble. Wir hatten alle eine Sehnsucht nach Sorglosigkeit. Und mit Ende des Schuljahrs, dem Beginn der Sommerferien, hielt uns nichts und niemand auf.
Wir drei reisten durch Süd-England mit einem Camper Van, mit Hin- und Rückflug Berlin-London Luton. Wir reisten breitspurig und bequem, mit einem Kühlschrank, vollgestopft mit Convenience-Food, mit Gasherd und vier Betten, um die letzten wilden Pferde in „unberührter Natur“ in Nationalparks zu erleben, Heidekrauthügel altrosafarben, abgeholzte grüne Hügel mit Schafen betupft. Auch Freunde machten Urlaub im green green grass of Great Britain. Die einen waren auf den Spuren Harry Potters in Schottland unterwegs, die anderen in London, die dritten in Cornwall. Geflogen sind sie alle. Andere flogen mit ihren Kindern für vier Wochen nach Hawaii, um ihnen Vulkane, die noch aktiv sind, und Regenwälder zu zeigen, die noch nicht gerodet wurden, den Waikiki Beach und die Inselbewohner*innen, deren Aloha, Freundlichkeit und Nächstenliebe, ihnen gutgetan haben. Ein verheerender Buschbrand, von einem Hurrikan blitzschnell verbreitet, tobte während ihres Urlaubs auf den südlichen Inseln Hawaiis, vor allem auf Maui, wo über hundert Menschen starben. Als ich unsere Bekannten deshalb in Sorge anschrieb, beruhigten sie mich. Sie seien ganz woanders, auf anderen Inseln und außer Gefahr. Danach posteten sie Fotos von der Bretagne, wo sie weitere zwei Wochen ihrer Ferien verbrachten. Ein Nachbarsjunge war mit Papa und Bruder währenddessen in Griechenland. Er postete Fotos: Ein landendes Flugzeug auf der Landzunge Korfus. Ein Teppich aus Liegestuhlpaaren und Schirmen auf einem goldenen Sandstrand. Oliven- und Kumquatbäume. Eine Cousine machte Clamping mit ihrer Familie in der Nähe von Triest. Hundert Kilometer weiter hatten Wälder und Dörfer gebrannt, so wie es auch brannte davor und danach in anderen Regionen der Mittelmeerländer, wo ein Hitzerekord den anderen schlug. Als ich mich sorgte, beruhigte sie mich. Das sei weit genug weg. Von all dem gänzlich unbehelligt flog Bärs Arbeitskollege mit Familie auf die Azoren, um Delfine zu filmen, verbrachten andere Verwandte zwei Wochen auf Norderney, nach ein paar Stunden in einem Autobahn-Stau. Eine Freundin und ihr Mann gönnten sich eine Kreuzfahrt auf der Aida, tropische Nächte, Cocktails mit leichter Brise am Pool, klimatisierte Kajüte und Bordrestaurants. Beste Freunde von uns vergnügten sich mit ihren Kindern in Paris im Disneyworld. Auch sie sind, trotz gestiegener Preise, dorthin geflogen. … Ich könnte noch lange so weitererzählen. Wir reisten alle durch die Welt, weil es wieder möglich war, als gäbe es kein Morgen mehr.
Urlaub, Erholung, Wellness, Abenteuer – steht uns doch zu. Wir arbeiten hart, wir arbeiten viel, 40 Stunden in Vollzeit pro Woche, und nur sechs von 52, die so ein Jahr an Wochen hat, haben wir frei, Zeit zur freien Verfügung. Wir haben uns daran gewöhnt, es ist gewissermaßen Norm, dass Erholen Verreisen heißt. Wir nehmen uns diesen Luxus, den wir gar nicht so empfinden. Reisen ist selbstverständlich, sofern das Geld dafür da ist. Reisen ist uns ein Trost. Das Licht am Horizont. Die flackernde Kerze am Ende des Tunnels, denn die Arbeit allein kann uns gar nicht erfüllen. Im Gegenteil, sie zehrt uns aus. Sie steckt uns einen Rahmen, sie gibt uns den Takt vor. Das Wir, von dem ich spreche, ist willens und motiviert, Leistung zu erbringen. Wir nutzen unsere Talente, unsere Soft Skills dafür, darin sehen wir Sinn. Tue das, was du gut kannst. Du bist Teil der Gesellschaft. Wir sind überzeugte Steuerzahler*innen. Wir sind die in der Mitte, die tragende Schicht, von der so viel gesungen wird. Von uns handelt das schönste Lied. Wir sichern den Wohlstand. Wir arbeiten viel und erwerben Immobilien, wir widmen uns unseren Kindern und legen Fonds für sie an. Wir kümmern uns um unsere Eltern, die schon lang in Rente sind. Wir sind optimal. Wir verdienen Gehälter, was mehr ist als Lohn. Wir sind die Glücklichsten von allen in unserer weichen Mittelschicht-Bubble. Und weil wir alles auf unseren Schultern tragen, dürfen wir uns belohnen. Und weil wir davon erschöpft sind, müssen wir das sogar. So denken wir das.
Natürlich, natürlich, unsere Flugscham fliegt mit. Wir sind ja nicht blöde. Wir wissen, dass wir mit unseren Flügen die Wüsten vergrößern, aus denen dann die Menschen fliehen, in Richtung Europa, dass unsere Klimaanlagen, die beheizten Pools, die Solarien und Saunen in unseren Wellnessoasen und unsere schönen SUVs, die uns mit 200 Sachen an unsere Traumziele bringen, die Gräser und Bäume auf unserer Erde austrocknen, die dann beim erstbesten Funken lichterloh brennen. Buchen wir unsere Flüge, zahlen wir deshalb pflichtschuldig Kompensation, wir spenden ein paar Euro für Aufforstungsprogramme, wie im Frühmittelalter die Sünder der Kirche einen Ablass bezahlten, um nicht nach dem Tod im Fegefeuer zu schmoren. Zuhause fahren wir wieder Fahrrad oder nutzen die Öffis. Wir konsumieren nicht mehr kopflos, wir essen bio und regional. Aber einmal oder zweimal im Jahr wollen wir uns was gönnen. Das wird man doch wohl können!
Am 6. Juli 2023 umflogen mehr als 134.000 Flieger den blauen Planeten, Privatjets und Frachtflüge nicht mitgezählt, eine Rekordzahl nach drei Jahren Corona und trotz Inflation. Wir sind nicht zu bremsen, wir schwärmen aus wie Eintagsfliegen. Permanent urlaubsreif. Wir sind nicht nur körperlich müde, wir sind auch geistig erschlafft. Wir leugnen das nicht. Wir sind satt und ausgehungert. Wir wollen unbelastet sein. Ungebremst lebensfreudig. Der Klimawandel ist bedrohlich und krass, jetzt auch noch die Kriege. Es ist diese Endzeitstimmung, die wir nur mit Hedonismus noch aushalten können. Wir reisen um zu entkommen. Um uns innerlich zu heilen und um neue Kraft zu tanken für die großen Aufgaben, die zuhause auf uns warten. Dass wir sie noch größer machen, während wir zur Erholung um die halbe Welt reisen, ist ein Paradox. Eines von vielen, das wir uns selbst erschaffen.