Icon für Prosa, Gestaltung © Maike Krasue

Sag Nika

– Roman (unveröffentlicht)

In der badischen Provinz der 1980er Jahre erkämpft sich Monika Wanger gleich zweimal die Freiheit. Den ersten Kampf führt sie gegen ihren Vater und dessen Gram, den zweiten gegen ihren ersten Freund, der sich bald wie ein Double des Vaters verhält.

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„Sag mir, wer du bist, Monika Wanger“, sagte er nach unserem ersten Kuss, und ich gab ihm zur Antwort: „Find‘s heraus.“

Aber wer ist Robert Stehr? Wer ist dieser Mann, in dessen vier Wänden ich wohne wie auf einem entrückten Planeten? Wer ist dieser Mann, von dessen Tellern ich esse, in dessen Bett ich schlafe, und der mich darin in einen Schwebezustand bringt? Ich kenne inzwischen viele seiner Facetten, trotzdem bleibt er mir fremd. Er überrascht mich immer wieder. An manchen Tagen verunsichert er mich.

Einmal werde ich mitten in der Nacht von einer Unheil verkündenden Stimme geweckt. Zuerst denke ich an Vater, bis mir bewusst wird, wo ich eigentlich bin. Ich taste über die Matratze, aber Robert ist nicht da, seine Decke aufgeschlagen, und ich erkenne, dass es Musik, ein Sprechgesang ist, was ich höre.

Ich finde Robert auf dem Wohnzimmerboden, im warmen Licht der Salzsteinlampe, den Aschenbecher neben sich. Er lehnt an der Couch, in Slip und T-Shirt, die Augen geschlossen, seine Hände gefaltet auf seinem Bauch. Zigarettenqualm strömt mir entgegen, auf dem Plattenspieler dreht sich eine Platte, auf der Hülle neben Robert erkenne ich den Schatten eines Vogels bei Nacht. Ein großer schwarzer Vogel wird von dem Sänger angerufen, der kommen solle, um ihn zu holen. Und dann fliegen wer, aufi, mitten in Himmel eini, in a neuche Zeit, in a neuche Welt. Mich schaudert.

Er spricht vom Sterben, das er herbeisehnt. Es klingt schrecklich pathetisch, aber Robert gibt sich hin, diesem dunklen Gefühl. Er ist schon so tief darin versunken, dass er gar nicht bemerkt hat, wie ich vor ihm aufgetaucht bin.

Ich frage: „Was hast du? Geht’s dir nicht gut?“

Robert erschrickt nicht. Vielleicht hat er mich insgeheim doch wahrgenommen. Zeitlupenhaft schüttelt er seinen Kopf, legt einen Finger auf seine Lippen und öffnet die Augen, um mich, wie durch milchiges Glas, einmal kurz anzusehen, mir aus einer anderen Welt einen Blick zuzuwerfen.

Ich berühre seine Schulter, sage, „bist du traurig?“ Da zieht er mich zu sich hinunter, dass ich in die Hocke gehe, und als er auf seine Brust klopft, lege ich mich zu ihm hin. Ich schmiege mich an ihn, obwohl mir das todessehnsüchtige Wispern und Frohlocken und dass Robert darin aufgeht, unheimlich ist.

Auf eine seltsame Weise fühle ich mich ihm verbunden und zum ersten Mal gewachsen. Ich meine, ihm so nahe zu sein wie sonst keinem auf der Welt. Und ich stelle mir vor, während ich bei ihm liege, ein rettender Engel für ihn zu sein. Wenn der Vogel ihn holen will, schlage ich mit meinen Flügeln. Als das Lied zu Ende ist, ziehe ich ihn vom Boden hoch.

„Komm“, sage ich, „wir gehen ins Bett.“ Robert erhebt sich und lächelt. Er lässt sich von mir führen, was mich beruhigt. (…)

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