Gestern war ich bei der deutschen Rentenversicherung, Standort Berlin, um mein Konto zu klären. Seit einem halben Jahr war die Aufforderung, dies zu tun, auf der äußersten Ecke meines Fensterbretts vergilbt. Unter ihr lag mein Bescheid, auf dem ein lächerlicher Betrag erwartbarer Rente für mich ausgewiesen war. Die wenigen Beitragszeiten, die offenbar noch nicht in das Sümmchen mit eingerechnet waren, die ich nachtragen lassen sollte, würden daran nicht allzu viel ändern. Schon das war deprimierend. Wozu also beeilen mit dieser Bilanz? Ich stürzte mich ins Leben und in meine Arbeit. Als ich mich endlich aufraffte, der Wahrheit in ihre kalten Augen zu sehen, wollte ich wenigstens nichts unversucht lassen. Also buchte ich gleich Beratung dazu. Wo sonst, wenn nicht bei der deutschen Rentenversicherung darselbst, würde ich wertvolle Hinweise kriegen? Bist du arm, bleibt dir Hoffnung.
Herrn Albrecht im Büro mit der Nummer 444 war nicht daran gelegen, mir Mut zuzusprechen. Der blasse Mittfünfziger mit dem schütteren Haar, der als Beamter der Rentenanstalt, als Sozialversicherungsfachangestellter hundertprozentig in Sachen Rente alles richtig gemacht und ausgesorgt hatte, saß mir in einem pastellgelben Pullover äußerst wortkarg gegenüber. Er war zunächst nur an Fakten und Zahlen interessiert. Sein Schreibtisch in L-Form war groß und leer genug, so konnte er meine Zeugnisse und Bescheinigungen, meinen Antrag und die zusätzlichen Formulare in mehreren Haufen um sich herum, in übersichtlicher Ordnung, auslegen. Für jeden noch nicht belegten Ausbildungs-Arbeits-Studien-Abschnitt überreichte ich ihm ein neues Blatt Papier und noch eins und noch eins, woraus schwarz auf weiß belegt, unzweifelhaft, hervorging, was ich mit meinem Leben angestellt hatte. Als Herr Albrecht mich mit sämtlichen Originalen verließ, um sie zu kopieren, den Beweisen meines Fleißes, blieb ich überrascht zurück, wie jemand, der nachsitzen muss, um noch mal gründlich über seinen Streich nachzudenken.
Im Schatten des waschbetongrauen Gebäudekomplexes mit seinen tausend Fenstern, die auf mich herabgeblickt hatten, hatte ich mich klein gefühlt. Der Komplex war schroff, ein messerscharfes L, das den Himmel zerschnitt. Nun sah ich mich um im Büro 444, von dem es Hunderte im gleichen Stil geben musste. Auf dem kürzeren Teil des Schreibtischs befand sich ein grauer PC, zwei lichtgraue, halbhohe Aktenschränke standen Spalier, der eine war geschlossen, der andere offen. Drei Topfpflanzen strengten sich an, etwas Grünes zu bleiben. Das war alles austauschbar, doch mit wenigen Fotos und Slogans hatte Herr Albrecht sich an seinen Zimmerwänden zur Geltung gebracht. Das alte Paris schien er zu verehren. Über dem offenen Schrank, in dem ein paar dicke Bände mit Gesetzestexten locker voneinander weggerutscht waren, hatte er ein altes Foto vom Bau des Tour Eiffel aufgehängt, daneben das Foto des berühmten Zugunglücks am Gare de Montparnasse. Eine alte Dampflok war durch den Bahnhof gestoßen und aus dem Gebäude in die Tiefe gestürzt. Neben diesen Fotos, die Herrn Albrechts Interesse für Technik und Schicksal zu erkennen gaben, hing eine Comiczeichnung von Karl Marx. Der alte Marx war mit wallendem Haar und Bart und roter Weste als schmerbäuchiger Scharlatan dargestellt. Darunter waren seine Worte gekritzelt: „Tut mir leid, Jungs, war halt nur so ne Idee von mir“. Aha, dachte ich, Herr Albrecht hat Humor. Der macht sich gerne lustig über Utopisten, über Leute, die bestehende Verhältnisse zu ändern versuchen. Aber von wegen. Auf der gegenüberliegenden Wand entdeckte ich Sprüche, die den Beamten Albrecht in ein anderes Licht rückten. „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“ war dort zu lesen, und darüber „Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen“. Das war frisch und kühn und trotzdem vernünftig. Herr Albrecht wurde mir sympathisch. So erwartete ich ihn, der übrigens unüberhörbar ein echter Berliner war, aufgeschlossen zurück. Nach dem Papierkram würden wir uns sicher gut unterhalten. Er würde mir mit zwinkerndem Auge, mit viel „dette“ und „nischt“ vielleicht sogar ein bisschen Geheimwissen zuspielen. Damit auch ich versorgt sein würde, many years from now.
Doch als Herr Albrecht wiederkam, die Kopien zusammengeheftet und sämtliche Stempel aufgestempelt waren, die Empfangsbestätigung ausgefüllt und unterschrieben, verlief das Beratungsgespräch leider sehr enttäuschend. Ernst und mahnend sprach er davon, dass bei mir nicht mehr viel zu holen sei. Meine Rente entspräche der Hälfte eines Sozialhilfesatzes. Es bestünde keine Aussicht, dass sich das noch ändern würde.
„Es sei denn“, warf ich zaghaft ein, „ich würde in Zukunft mehr Beiträge zahlen, oder etwa nicht?“ Ich wollte mich ändern, mich ihm einsichtig zeigen. „Ich weiß ja, ich muss noch was zusätzlich tun.“
Er fing an, über die unwägbaren Risiken von Investmentfonds zu sprechen. „Nee, dette is doch nüscht“, sagte er, „man braucht doch watt, watt man im Alter janz sicher zur Verfüjung hat. Sie sollten sich mal die Riesterrente überlejen, da müsstense…“, er überlegte, „da müsstense n‘Jahresbeitrach von 156 Euro bezahlen, denn könntense vom Staat den Zuschuss abschöpfen. Also, det sollte man sich doch nich durch die Lappen jehn lassen.“
„Na gut“, sagte ich, „nur wirklich viel kann dabei ja wohl auch nicht rauskommen.“ Er wiegte seinen Kopf, und ich versprach ihm, es mir zu überlegen.
Da begann er von vorne, Investmentfonds zu verteufeln, obwohl ich das mit keinem Tönchen erwähnte. „Da ham sich schon viele umjeguckt, die ham sich nich jekümmert, den Jewinn nich rechtzeitich abjeschöpft und denn hattense nischt mehr. Nee, det is nischt für ne Altersvorsorje.“ Je mehr Herr Albrecht sich gedanklich auf dieses gefährliche Terrain begab, umso mehr fing er an, mit seinen Händen zu fuchteln, und durch sein rauchergraues, müdes Gesicht zuckte es wie Gewitter. Beim Stichwort „hohe Gewinne“ warf er seine Arme hoch, bei „Kurseinbruch“ fielen die Arme wieder an ihm herab, wie die Dampflok in Montparnasse. Sie fielen jedes Mal tiefer, bis er schließlich mit ihnen unter dem Schreibtisch verschwand. Inhaltlich drehte er nur noch Schleifen.
Ich sah mir die Eurythmie von Herrn Albrecht eine ganze Weile an, sie betäubte mich etwas. Als er gar nicht mehr aufzutauchen gedachte, – ich sah nur noch seinen hellgelben Rücken, sein Kopf und seine Arme hingen unter dem Tisch -, packte ich meine Papiere, bedankte mich und ging. Ohne Handschlag verließ ich den Erschöpften. Ich schloss die Tür hinter mir, schritt lange Flure entlang, durchquerte kalte Treppenhäuser, Flure und nochmals Flure und passierte schließlich noch einmal die Lobby, den großen Empfangs- und Wartebereich. Zusammengeschweißte Stühle scharten sich um einen Teppich mit Venusmuschelmuster. Darauf saßen schon wieder neue fleißige Bürger und Bürgerinnen, wenige mit Gleichmut, die meisten von ihnen mit verdruckster Zuversicht. Vor einer knappen halben Stunde hatte auch ich hier unten gesessen, auf das Muster gestarrt und die kleinen Muscheln zu zählen begonnen. Auch ich war nicht ganz ohne Hoffnung gewesen. Vielleicht wegen Kate Bushs Stimme, deren Gesang erstaunlicherweise abgespielt wurde. Aber hallo! Kate Bush und die deutsche Rentenversicherung, ich hätte es mir denken können. Das passte ungefähr so zusammen wie die Bilder an den Wänden in Herrn Albrechts Büro.