„Oh je! …Ha nei!… Nei, no goht’s nit. … Was?! …. Jetzt hersch uff! … Jessis nei. Ha nei! Jesses Maria!!! Nei!… Ha wa! Jesses Gott!“ Mamutschka sitzt in ihrer Küche und telefoniert, ich sitze bei ihr und höre ihr zu. Am anderen Ende der Leitung ist die Witwe eines ihrer Neffen, die wir heute besuchen wollen.
„Was ist denn los?“, frage ich, als das Gespräch zu Ende ist. „Mir könne nit no“, murmelt Mamutschka. Der Enkel der Witwe hat die Hand-Fuß-Mund-Krankheit, Bläschen und Geschwüre auf den Händen und der Zunge. Schade, denke ich, aber warum so ein Entsetzen? „Was war noch?“, sage ich.
Mamutschka hebt den Kopf, und nun kommt die Geschichte. Die Mutter des Schwiegersohns der Witwe war kurz zuvor tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Du brauchst mich nicht so häufig besuchen, habe die Frau zu ihrem Sohn noch gesagt, mehrmals habe sie das gesagt, macht euch keine Sorgen, ich komm gut zurecht. Offenbar fühlte sie sich gut versorgt in der betreuten Wohnanlage. Im Haupthaus gab es Unterhaltung, ein kleines Café, stell ich mir vor, Rätsel raten, Volkslieder singen, Gymnastik im Sitzen, vor dem Fenster lag der Schwarzwald, ein schönes Fachwerkstädtchen. Sicher gab es einen Knopf, den sie im Notfall drücken konnte, – das gehört zur Betreuung in diesen Wohnanlagen – , aber die Frau hat den Knopf nicht gedrückt, vielleicht nicht mehr gefunden. Ihr Darm war durchgebrochen, was sie sicher entsetzt hat und ihr furchtbar peinlich war. Sie hatte noch versucht, die braunen Spuren wegzuwischen, hatte begonnen sich auszuziehen. In ihrer Unterwäsche lag sie tot auf den kalten Fliesen im Bad, als jemand nach ihr schaute. Der Knopf war unerreichbar, er befand sich im Flur.
Sprachlos hocken Mamutschka und ich am Küchentisch, die Küchenuhr tickt. Ich schaue sie mir an, meine kleine alte Mutter. Ihr faltiges Gesicht mit den hellbraunen Augen, die sich an ihre Nasenwurzel schmiegen. Mamutschka ist neunzig und lebt noch allein. Sie lebt allein in einem Haus, und sie kann so noch leben, weil sie dabei unterstützt wird. Sie hat Hilfe von zwei Frauen der Nachbarschaftshilfe, von einer Frau für den Haushalt, die an drei Tagen kommt, und von einem Gärtner. Auch von uns, ihren Töchtern. Mamutschka will darin sterben, in ihrem viel zu großen Haus, (ein Haus für drei Familien), und ich kann sie verstehen. Auch wenn es sie, mich und meine Schwester immer wieder nervös macht, weil ihr Leben als greise Seniorin wie ein wackeliger Gang auf einem sehr schmalen Grat ist.
„Des isch no nit alles“, sagt Mamutschka plötzlich. In der gleichen Wohnanlage sei noch jemand gestorben, ein paar Wochen zuvor und genauso unbemerkt, so erzählte es die Witwe. Ein Mann, sagt Mamutschka, habe tagelang tot auf der Terrasse gelegen. Auf der kleinen Terrasse vor seiner kleinen betreuten Wohnung. Der habe da gelegen, bis jemand auf dem Gehweg die Nase gerümpft hat. Rattenkadaver, habe die Person zuerst noch gedacht.
Mamutschka und ich murmeln unisono: „Des gibt’s nit“ „Das kann doch nicht sein.“ Wir schütteln unsere Köpfe, über uns tickt die Uhr. „Das also ist betreutes Wohnen“, sage ich vor mich hin, und wir schauen uns an. Deutschland, deine Alten. Deutschland, deine Kinder. Deutschland, deine Kranken. So sollte es nicht sein in unserem reichen Land.