Icon für Prosa, Gestaltung © Maike Krasue

Nur was wir wissen

– Erzählung

Aus dem GEPLANTEN Erzählband „DAS richtige leben“

Der nette Witwer von nebenan zeigt Ellas Tochter das Schnitzen einer Weidenholzpfeife. Sie sind in seinem Hobbyschuppen verschwunden. Kann Ella ihm vertrauen, nach dem, was sie einmal als Mädchen mit einem Onkel erlebte?

Icon für Prosa, Gestaltung © Maike Krasue

Ella war draußen auf der Terrasse, als das Pfeifen ertönte. Es war kein menschlicher Pfiff. Das Pfeifen klang hölzern, wurde lauter und schriller, dann knackte es furchtbar in ihren Ohren.
Ella erstarrte und ihre Hand, die eben noch über den Gartentisch wischte, blieb reglos liegen.

Es war ein Apriltag, denkwürdig warm. Das Konzert der nistenden Vögel, der pudrigen Hummeln und einzelner Bienen hatte fast so wie früher nach Aufbruch und Einklang und Unschuld geklungen. Doch als wäre sie in eine Höhle oder in ein Gewässer, ein paar Meter tiefer hinuntergefallen, war Ella auf einmal wie taub, in einem Raum eingeschlossen, der abgeschirmt, nach außen gedämmt war. Sie hörte nichts mehr, zwei Lidschläge lang, nur ihren eigenen angstengen Atem. Ihr Blick war verschwommen, in eine diffuse Ferne gerichtet. Sie war in die dunkle Zone gereist.
Dann klärte sich ihr Blick, und das Summen und Zwitschern erreichte sie wieder. Sie bewegte ihre Finger, drückte den Lappen. Auch die hungrigen Stare im Kasten, oben in der Linde, hörte sie wieder, die Meisen und Spatzen. Als sie das Pfeifen von neuem vernahm, konnte sie es orten. Es kam aus dem Schuppen von nebenan. Sie erkannte ein Lied, das da jemand versuchte. Immer vier Töne, wieder und wieder, irgendwie schief.

Wie schön, dass du… wie schön, dass du…

Darauf folgte Rominas Lachen, das Giggeln ihrer Tochter drinnen im Schuppen und Fridas Bellen, die Schwanz wedelnd vor der Schuppentür stand.

Ella stieß ihren Atem mit Erleichterung aus. Sie hatte den Impuls, bis an die Hecke zu gehen, die Walters Gartenparzelle von ihrer abtrennte.

Die Hainbuchenhecke war höher geworden und seit ein paar Wochen wieder nahezu blickdicht. Ella musste auf die Zehenspitzen um rüber zu sehen.

Romina, rief sie, kommst du mal bitte.

Die Labradorhündin hob ihren Kopf und schlenderte heran. Sie schaute zu ihr hoch, mit offenen Lefzen und ihren braunen glänzenden Augen.

Na Frida, du Gute, sagte Ella. Sie wartete und lauschte. Ein Klopfen, ein immer schnelleres Klöppeln drang aus dem Schuppen. Dazu das fröhliche Hecheln von Frida, die hüpfende Zunge direkt unter ihr.

Ella fixierte die Tür an der Seite des Schuppens. Nie konnte sie hineinsehen, von ihrem Garten. Walters Schuppen hatte nur ein Fenster zur Hofinnenseite.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach vier. Jetzt wusste sie auch wieder, was ihr Anliegen war.
Romina, Romina, rief sie erneut. (…)

error: Content is protected !!