Icon für Prosa, Gestaltung © Maike Krasue

Nicht genug

– Erzählung

Beate fährt ein letztes Mal zu ihrem Vater. Sie begleitet ihn mit der Mutter beim Sterben. Wie wenig Zeit sie mit ihm hatte. Es war nicht genug, was sie mit ihm geteilt hat.

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Sie fährt durch die Tunnel, durch Hügelketten oder so was wie Berge, sie fährt mit dem Zug, sie oder ich oder du.

Sie ist eine Frau, die nicht mehr jung ist, alt aber auch nicht, eine dem Alter trotzende, noch wendige Frau. Eine von diesen, nach der sich ein Dreißigjähriger versehentlich umschaut, und den Irrtum erst spürt, wenn er ihr ins Gesicht schaut.

Sie ist in Trauer, sie oder ich und irgendwann du. Abweisend wirkt sie und in ihre Falten und auf ihre Stirn sind viele Fragen, unlesbar für ihn und für jeden, geschrieben. Halt suchend geht sie, leicht schwankend, die Gänge entlang, fährt quer durchs Land, vom östlichen Norden zum südlichen Westen. Sie reist durch die Kreise, Landschaften, Hügel und Städte. Wie heißen sie noch? Sie ist diese Strecke in diesem Winter mehrmals gefahren, zweimal im Monat. Sie sollte sie kennen, die Namen. Jetzt hat sie Schwarz im Gepäck.

Sie ist nicht allein mit dieser Sache, so viel ist klar. Ihr Freund in Hochstein ist einen Monat vorher gefahren. Die Freundin aus Borsik fuhr vor zwei Jahren. Ein Nachbar von ihr fährt sogar zeitgleich, wenngleich in die andere Richtung. Das ist ein seltsamer Trost.

Wenn er nun stirbt, den ich mein ganzes Leben gekannt habe, der immer da war, auch wenn er nicht anwesend war, dann endet mit diesem Menschen ein Teil von mir selbst. Wenn er nun stirbt, der schon von Anbeginn da war und der mich, sagen wir, zweihundertfünfundachtzig Tage vor meiner eigenen Geburt in einem Akt der Enthemmung, euphorisch, vielleicht ja aus Liebe, gezeugt hat, dann ist mit ihm vor allem genau dieser Anfang verschwunden, die Kraft dieses Anfangs und seine Chemie und etwas von dem, was man Verbundensein nennt. Die Wurzeln oder mein Stamm, der Boden all meiner Stärken und Schwächen, er ist dann weg.

Das denkt die Frau mit dem Namen Beate, so oder ähnlich, nachdem sie lange genug aus ihrem Fenster gestarrt hat, auf diese Hügel zwischen den Tunneln, auf brache Felder und Städte, die allesamt schlafen oder erstarrt sind.

Es ist ihr Winter der Lichtlosigkeit, ein Stillstand, ein Warten, ein Aushalten müssen. Ihr Vater wird sterben, mein Vater und deiner. Wie unsere Mütter. Sie gehen uns glücklicherweise, muss man ja sagen, in ihre Gräber und Urnen voraus. Nicht das Geringste gibt es zu klagen.

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