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Käse

Neulich kaufte ich einem Mann vor dem Kaisers Markt ein Stück Käse und zwei Brötchen.

Der Mann hatte mir schon entgegengesehen, als ich herangeradelt kam. Sein Blick, von der Treppe vor dem Markt ausgeworfen, war ein Angelhaken, der sich in mich bohrte und mit mir bewegte. Er sah mir zu, wie ich das Fahrradschloss auf- und wieder zuschloss, wie ich den Einkaufsbeutel aus dem Lenkerkorb nahm, wie ich auf die Treppe zuging, wo er, der Angler, am Metallgeländer lehnte.

Er war bekleidet wie viele im Ostteil Berlins, in dunklen Farben, die ergrauten, unprätentiös, entfernt von jedem Trend. Obdachlos, arbeitslos, mit oder ohne ABM, ein Niedrigverdiener, – er hätte vieles sein können. Ich stieg, ihn missachtend, mit ausreichendem Abstand, die Stufen hinauf. Sein Starren war mir zuwider. Er stieß sich ab vom Geländer, ging neben mir her und hielt mir seinen leeren Pappbecher hin. „Hast du vielleicht ein paar Cents?“ Ja, das war Alltag. Das geschah an jeder Ecke jeden Tag in Berlin. Aus den vielen wurde einer. Aber ich mochte das nicht. Ich gebe niemals etwas, wenn mich einer bedrängt. Ich ignorierte seine Frage, das Glasportal des Marktes war erreicht, es öffnete sich. Gleich riss ich mich von der Schnur.

„He du“, rief er mir nach, „deine Blumen. Du hast deine Blumen vergessen.“ Ich wandte mich um. Der Mann hatte Recht. Auf dem Gepäckträger eingeklemmt lag mein bunter Herbststrauß. Kleine Sonnenblumen schmiegten sich an Chrysanthemen. „Ich pass auf sie auf“, rief der Mann. „Sie können einkaufen gehen, ich pass wirklich auf.“ Das gefiel mir, ich lachte. „Nicht nötig“, rief ich. „Doch, doch!“ Er grinste.

Ich kaufte meine sieben Sachen, und sah dem Mann von der Kasse durch die große Scheibe zu. Er stand tatsächlich wie ein Wächter über meinem Fahrrad. Er hatte die Seite des Geländers gewechselt, und sein Hakenblick hielt jetzt vermutlich meinen Blumenstrauß fest.

„Vielen Dank“, sagte ich zu dem Mann, als ich durch die Glasfront ins Freie trat. Ich hatte einen Euro zwischen meinen Fingern, ging zu ihm hin und warf ihn in seinen Becher. Es klang dumpf nach Pappe, die Münze fand nicht ihresgleichen. Der Mann blickte in den Becher und fischte das Geldstück wieder heraus. „Bisschen Käse wär‘ mir lieber“, sagte er. „Käse“, sagte ich. „Käse, ach so. Was für einen mögen Sie denn? Einen herzhaften oder milden? Gouda oder Brie, von der Kuh oder Ziege?“ Sein Gesicht wurde breit, weil auch er heiter wurde, es war ein Gesicht, in das ich schon deshalb viel lieber hineinsah. Es zeichneten sich die Gedanken an Käse, an seinen Geschmack, an Essen überhaupt ab. An Gaumengenüsse. „Camembert“, sagte der Mann wild entschlossen, „und zwei Schrippen dazu.“

Ich ging mit federnden Schritten noch einmal in den Markt, um ihm zwei Brötchen aus dem Backshop zu holen und an der Käsetheke ein großes Kuchenstück Camembert abschneiden zu lassen. Ich erfüllte ihm mit wachsender Freude seinen Wunsch. Wir hatten aus der Angelschnur mit dem störenden Haken einen zarten Faden gezaubert, der uns in diesen Minuten verband. Der Mann strahlte mir entgegen, als ich ihm sein Essen brachte. „Wiedersehen und vielen Dank“, rief er mir mehrmals nach. Auch ich rief, als ich davonfuhr mit meinen eingeklemmten Blumen, „auf Wiedersehen“ zu ihm über die Schulter.

Am nächsten Tag sah ich ihn wieder vor dem Kaisers Markt stehen, aber es war, als hätte es den Käse-Moment zwischen uns nie gegeben. Er war mit einem im Gespräch, der schon tags zuvor nicht weit von ihm unterhalb der Treppe herumgelungert war, mit einem schmächtigen Kerl, deutlich jünger als er. Dieser trug eine viel zu weite Blousonjacke, den Reißverschluss halb geöffnet, ein Ballon von einer Jacke, eine Hand steckte samt sperrigem Inhalt darin. Auch das war Alltag in Berlin in den Nachwendejahren. Ein junger Vietnamese, der Zigaretten vom Schwarzmarkt vertickte. Mein Blumenwächter warf einen flüchtigen, gleichgültigen Blick zu mir hin, bevor er mir seine geduckten Schultern zudrehte. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt, sie sprachen leise im Vertrauen, so viel war zu erkennen. Aber was? War der Blumenwächter womöglich gar kein Bettler, sondern auch so ein Dealer? Hatte er mich mit dem Käse an der Nase herumgeführt? War ich für die beiden eine Nachmittags-Unterhaltung gewesen? Der Käse ein Gewinn nach einer stehenden Wette? Was wusste ich schon? Nichts wusste ich.

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