Spontan und kurzentschlossen buchen wir einen Skiurlaub im Harz. Den bucht man immer spontan, weil das Wetter im Harz sehr kurzentschlossen ist. Heute Schnee, morgen Regen.
Noch gibt’s Corona, was uns aber nicht zurückhält. Wir übernachten in einer Fewo, darin werden wir auch essen, und Ski fährt man draußen. Wir melden uns bei einem Skiverleih an, geben unverschämt viel Geld für Skibrillen aus, machen stündlich einen Schneehöhen-Check. Auf den mittleren Höhenlagen sieht es wenig verheißungsvoll aus. Zweifeln, Zögern, vielleicht doch lieber nicht? Wir pflegen die Nerven und bewahren die Hoffnung.
Wir durchqueren Sachsen-Anhalt, es ist Anfang Februar, der Himmel ist grau. In dämmrigem Tageslicht fahren wir durch eine Ödnis, auf kahlen Alleen über kahles weites Land, flächige Wellen. Eine reizlose Gegend, endlos brache Felder. Die Ortschaften wirken, als wären sie in den Nachkriegsjahren wie Dornröschen eingeschlafen. Das Fachwerk ist alt und rissig, sicher denkmalgeschützt. Viele Fassaden sind mit Schindeln verkleidet, in den Farbtönen mausgrau, grau-beige und umbra. Aber sind das wirklich Schindeln? Oder doch eher Platten? Sie sind rechteckig, nur manchmal halbrund, manche rautenförmig. Vielleicht sind das die sozialistischen Schindeln, meint Bär, einige Fassaden sehen wie in Berlins Nikolaiviertel aus. An den Waschbetontreppen verlottern rostige Geländer. Gelegentlich ist eine Hauswand mit ziegelroten Harzer Pfannen verhüllt. Wir dachten, damit werden Dächer gedeckt. Hier schützen sie Außenwände. Das lässt auf schwere Stürme schließen und peitschenden Regen. Eine Kostprobe davon kriegen wir bald zu spüren. Am Ende einer Allee greift der starke Wind zu. Unser kleines Auto driftet aus seiner Spur. Bär hält das Lenkrad, wie in der Fahrschule, mit beiden Händen oben fest.
Dann lichtet sich plötzlich in der Ferne die graue Wolkendecke. Wir sehen einen hellen Lichtstreif, der aus einem Nebelband herausragt. Eine mächtige Erhebung mit leuchtendem Dach, eine Fata Morgana. Raupe ruft: „Schnee!“ Was wir sehen, ist die Kuppe vom Brocken, die in diesem Moment ein paar Sonnenstrahlen einfängt. Schließlich geht’s an der ehemaligen Zonengrenze entlang, dann nach Niedersachsen.
Als wir durch Wernigerode nach Braunlage weiterfahren, wird es regnerisch düster. Wir erklimmen das Harzgebirge, tauchen ein in den Nebel. Bis vor zehn Jahren hat ein dichter Fichtenwald die Straße gesäumt, die sich kurvenreich windet. Aber diesen Wald, den Harzer Wald, gibt es nicht mehr. Nur ein wüster Felsen ist übriggeblieben. Ein schroffes Steilhanggebiet mit gespenstischen Bäumen. Die Fichten, die noch stehen, haben kein immergrünes Nadelkleid mehr. Nackt, wie dürre Gerippe mit hellgrauen Stämmen und abgebrochenen Ästen ragen sie in den Nebel, wie kaputte lange Bürsten, Flaschenbürsten mit wenigen Borsten. Viele köpfte der Sturm in den höheren Lagen, er knickte sie um. Die Reste der Stämme sehen wie von Riesen zerbissene Zahnstocher aus. Andere sind in ganzer Länge umgestürzt, ihre flachen Wurzelteller hängen vertrocknet über der Erde. An manchen Teilabschnitten dieses jämmerlichen Forstes haben Waldarbeiter ihre Kettensägen angelegt. Sauber abgesägte Stümpfe ragen unter den gefallenen Stämmen hervor, Mikadostäbchen, kreuz und quer hingeworfen.
Verheerend, denke ich. Mir fallen Filmaufnahmen ausgebombter Städte ein, Bilder von Aleppo oder Homs, von Berlin oder Dresden, in Schutt und Asche gebombte Häuserschluchten, das staubige Grau, vereinzelt Überlebende in den Ruinen. Apokalypse. Die Menschheit an einem Nullpunkt.
Dass es dem Wald im Harz nicht gut geht, wusste ich. Es gab Reportagen. Es begann mit dem Sterben schon Jahre zuvor, und es wurde massiv nach zwei viel zu heißen Sommern. Es starben die Fichten in den Monokulturen, aber es sterben auch die Tannen, die Eichen und Buchen. All das ist mir bekannt, trotzdem bin ich geschockt. Mich macht das richtig fertig, diesen grauen Friedhof der Bäume zu sehen, mehr als Raupe und Bär, die, wie mir scheint, zwar auch betroffen sind, aber anders als ich ihre Fassung bewahren. Schnee gibt es auch kaum, nur ein paar schmutzige Klumpen kleben am Straßenrand, was Raupe beschäftigt, uns alle gleichermaßen nicht in Hochstimmung bringt. Als ich in Braunlage die Schlüssel für die Fewo abhole, kann ich mein Entsetzen bezüglich des Waldes nicht verbergen und werde fröhlich belehrt. Nein, nein, sagt die Frau, die die Fewos verwaltet, der Wald sei nicht tot. Wir hätten nur den Blick zu weit nach oben gerichtet. Anfängerfehler. Sie müssen, sagt sie, Ihren Blick nach unten richten. Dann würde ich sehen, was da schon wieder alles wächst. Ich bin verblüfft, und die Frau gerät ins Schwärmen. Sie lobt den Borkenkäfer, der sehr willkommen sei. Er helfe dem Wald sich neu zu gebären, so habe es ihr ein Förster vom Nationalpark erklärt. In 25 Jahren, glauben Sie mir, beschwichtigt sie mich, werden unsere Kinder und Enkel in einem neuen und viel schöneren Wald ihre Ferien verbringen. Aaaah so, sage ich. Ja, das ist doch sehr toll, dass wir das erleben dürfen, sagt die Frau hinterm Tresen und lacht, diese Wiedergeburt. Davon würde sogar der Tourismus profitieren.
In der Ferienwohnung trösten uns Hirsche. Wir haben 42 Quadratmeter Wohnfläche gemietet, auf der sich ein Doppelbett und ein Ausziehsofa, ein Kleiderschrank, eine Küchenzeile mit Küchentisch und Stühlen, ein Bad und zwei Sessel mit Couchtisch verteilen. Es ist mir rätselhaft, wie ein Bestand von geschätzten einhundertfünfundzwanzig Hirschen oder Hirschelementen auch noch Platz darin findet. Aber sie tun es. Auf der Tapete prangen Hirschbüsten mit jungen und welche mit größeren, imposanten Geweihen. Ganze Hirsche aus Filz strecken ihre Hälse auf den Fenstergesimsen. Ein knallroter Hirsch dient als Spritzschutz beim Herd. Eine Wanduhr mit Hirschmotiv, Hirsch-Bilder in Rahmen, ein Geweihteil in Silber, ein Hirschkopf in Silber über der Schiebetür, Hirsche auf den Servietten, Hirsche, die zurückblicken, Hirsche, die röhren, Hirsche beim Äsen, Hirsche auf den Gläsern und Glasuntersetzern. Später wird uns der Skilehrer Ulli erzählen, dass er für die Vögel in seinem Garten täglich Futter ausstreut, aber die Hirsche würden es fressen. Das macht uns gute Laune. Kein Wald, aber Hirsche. Die scheint es in rauen Mengen zu geben. Wie es ihnen wohl ergeht in dem kahlen, vollkommen chaotisch gewordenen Restwald? Überall liegt was herum, erodiertes Geröll, Wurzeln und Totholz. An ruhiges Spazieren ist ja nicht mehr zu denken. Andererseits, vielleicht finden es die Hirsche gar nicht so übel, wenn sie den Blick nach unten richten, wo die Jungtriebe keimen. Das ist sicher ziemlich yummy, was da so alles wächst, ausgepflanzte Laubbäumchen, Stauden, Beerensträucher und Gräser. Aber ach, armer Hirsch. Aus ihm macht man Burger im örtlichen Bistro. Wahrscheinlich stört er den Urwald bei seiner Entstehung.