Hallo, ihr da draußen, könnt ihr mir helfen? Bei mir ist was am Kippen, ich weiche offensichtlich auf, verliere die Haltung. Dieser Prozess läuft schon seit Jahren – ich werde älter und sentimentaler!
Ein Beleg sind meine Tränen vom ersten Weihnachtsfeiertag. Im Schwarzwälder Wohnzimmer funkelten die Lichter am geschmückten Tannenbaum, Kerzen brannten auf dem Tisch, Bär und ich streckten unsere Beine auf der Couch aus. Mamutschka saß uns gegenüber, vor uns dampfte heißer Tee. Ich hatte ihr eine Weihnachtsgeschichte von Tschechow vorgelesen, danach war sie eingeschlafen. Bär und ich lasen weiter in unseren Büchern, still und ungestört. Es war herrlich, faul zu sein. Als Mamutschka wieder aufgewacht war, sah sie uns an. Sie schaute eine Weile zu, wie wir nichts weiter taten, als hin und wieder eine Seite umzublättern. Es langweilte sie. Sie ging durch den Vorhang ins Esszimmer rüber, setzte sich in ihren luxuriösen Sit&More-Sessel und war dort sogleich viel besser unterhalten. Wir vernahmen Gesang, tosenden Applaus und eine weibliche Mikrofonstimme, die wie in einer Manege Ansagen machte. Da Mamutschka schlecht hört, wurden wir, trotz des Abstands von schätzungsweise sieben Metern, dröhnend beschallt. Lautstärke Laubbläser. Wir verdrehten die Augen. Ganz sicher, dachte ich, geh ich nicht zu ihr rüber. Solche Schlagershows musste ich samstagabends in meiner Kindheit und Jugend erdulden, ich sag nur Starparade mit James Last oder Zum Blauen Bock. Fand ich damals schon nicht hipp. Ich versuchte mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber der Applaus, der im Esszimmer aus den Lautsprechern rauschte, schwoll immer mehr an. Das waren nicht nur hundert Gäste, die in einem Fernsehstudio zwischen Fachwerkkulissen an Biertischen saßen. Es klang nach großer Masse.
Irgendwann stand ich auf, um mir ein Bild zu verschaffen. Ach nee, alles klar. Es war Helene Fischer, die gerade im Duett sang. Eine nordische Elfe im roten Rüschenkleid, ihr Gesangspartner im weißen Frack, gelbblondiertes Haar, Vokuhila, Mittelscheitel. Sie trällerten einen Schlager auf weißer Treppe, ein keckes Anmacherliedchen, auf dem Bühnenhintergrund blühten rosa Rosen Um sie herum hüpfte ein Ballett folkloristisch in goldweißer Tracht. Das war so artig und peinlich wie früher. Raupe, die kurz vorbeikam, murmelte, was ist das denn, und machte sofort wieder auf dem Absatz kehrt. Ich blieb neben meiner Mutter fassungslos stehen, mit einem leisen Schuldgefühl, – wir hatten ihr nichts mehr geboten. Schaute sie sich so was vielleicht aus Protest an, aus schierer Verzweiflung? Ich war bereit, nach der Fernbedienung auf ihrem Tischchen zu greifen.
Es stellte sich jedoch heraus, dass dieses schmalzige Duett als Gag gedacht war. Weiter ging es moderner. Mit Helene in engem Jumpsuit, Nebelkanonen, digitaler Bühnentechnik, Lichtshoweffekten, Multikulti-Tanzperformance. Keine Ahnung, wie viele Fans in die Messehalle von Düsseldorf passen, in der die Show stattfand. Es müssen Tausende gewesen sein, Fans allen Alters, Heteros und Queere, Freundinnen und Paare, die vor Begeisterung schrien, wenn ein Lied zu Ende ging, sich vor Rührung umarmten, sich filmen ließen beim Küssen, mitsangen unter Tränen. Was ist da los, dachte ich. Warum sind die alle so, und nur bei mir tut sich nichts? Warum stand ich stocksteif da, wie eine Nussknackerin im Überformat? Warum ging ich nicht einfach zurück auf die Couch? Ich hatte keine Erklärung und setzte mich hin. Ich sah mir das an, um es zu begreifen.
Was ist denn so toll an dieser Helene? Sie kann singen, das stimmt. Sie hat eine Figur, die gerade im Trend liegt, schöner als Barbie und Ibiza-gebräunt, makellos sind ihre Zähne. Sie ist sexy, unbestreitbar. Außerdem ist sie freundlich, ihre Gäste lieben sie. Sie wirkt trotz Show-Routine natürlich. Ihr Lachen, ihre Freude. Egal, worüber sie singt, du denkst, das meint die wirklich. Wenn sie über Liebe und Freundschaft, Träume und Altwerden singt, glaubst du es ihr. Sie glitzert dort auf der Bühne wie ein sehr heller Stern. Manchmal schwebt sie wie ein solcher. Sie macht ihr Publikum glücklich und wühlt es innerlich auf. Das brauchen die Menschen. Sie singt von großen Gefühlen, und für die Dauer ihres Liedes dürfen das alle wieder mal haben, Kontakt mit sich selbst, dürfen irrational sein, und was sie empfinden, tief und ungeniert erleben. Alle miteinander im kollektiven Gefühlsrausch. Eine Enthemmung, lang erhoffte Selbsterkenntnis. Bei manchen hatte ich den Eindruck, die uns die Kameraleute aus dem Publikum pflückten und unverhohlen zeigten, sie machten sich nackt, ganze Staudämme brachen ein, Scheuklappen fielen, ihre Panzer brachen auf. Ich war inzwischen so weit, mich mit Helene zu versöhnen, die ich aus einem unklaren Grund jahrelang missachtet, nein, sogar verachtet hatte. Ich zollte ihr demütig meinen Respekt. Ist okay, dachte ich, den Menschen zwei Stunden Innigkeit zu schenken. Ist doch gerade sehr eisig auf der Welt.
Dann erwischte es mich selber, als Reinhard Mey auf der Bühne erschien, das Idol meiner Jugend, dessen Lieder zur Gitarre ich früher am KJG Lagerfeuer nachgespielt hatte. Ich knickte wehrlos um, als der alte Mann mit brüchiger Stimme von einem Wir zu singen begann, das sich im Alltag verloren hat, vom Einsamsein zu zweit. Die Gitarre am Schulterriemen zupfte er die Akkorde, mäuschensanft seine Augen. Und wie bei allen ihren Gästen kam Helene dazu und sang mit ihm im Duett, als wären sie beide das Paar, das um seine Liebe rang. Ich glotzte romantisch und nahm meine Brille ab, um mir die Tränen abzuwischen. Sogar Bär kam durch den Vorhang, um sich das anzuschauen.
Kann ja mal passieren, werdet ihr sagen. Aber nein, es ist noch schlimmer, es passiert mir immer öfter. Mit mir läuft was schief. Ich bin in Gefahr, ungehörig empfindsam zu werden, wovor ich lange gefeit war.
Während meinem Studium, meiner Zeit an den Theatern und als Drehbuchautorin waren Tränen der Rührung bei Kino- oder Theaterbesuchen auf alle Fälle zu vermeiden (und das gelang mir meistens auch). Identifikation galt als unreflektiert, als kleinbürgerlich und gefühlsduselig. Ich studierte Germanistik und Philosophie, Theaterwissenschaften, und wie ein(e) Medizinstudent*in früher oder später eine Leiche seziert, so zerlegten wir aus den Geisteswissenschaften jeden Film und jedes Drama. Der Intellekt war zu schulen, die Strukturen freizulegen, die sich hinter den Geschichten verbargen, ihren Wirkmechanismus. Uns interessierten Theorien, Traditionen und Handwerk. Wir wollten verstehen, was uns zu manipulieren versuchte, wir mussten durchschauen, wie Spannung entstand, wie Empathie funktionierte, aus welchen Zutaten Charaktere entstanden. Wie Analytiker*innen saßen wir in den Kinos und Theatern, wir obduzierten, was wir sahen und feilten an unserem Urteil. Währenddessen suchte ich nach meiner Sprache und meinen eigenen Geschichten, und wenn ich einmal weinte in all diesen Jahren, dann aus ganz privaten Gründen.
Sentimentaler wurde ich erst, seit Bär an meiner Seite ist. Bär, du bist schuld, dass ich weich wie ein französischer Camembert geworden bin! Nein, nein, das ist Quatsch! Besser sage ich es so: Seit ich mich geborgen fühle, lasse ich wieder zu, Gefühle zu haben. Seither weine ich Rotz und Wasser, wenn in einem Film jemand stirbt, dessen Fähigkeit zu lieben ich zuvor erleben durfte. Ich weinte bei „Brokeback Mountain“, ich weinte bei „La La Land“, „Titanic“ ging gar nicht. Bei „Annie with an E“ wären Bär und ich in der ersten Serienfolge vor Rührung gestorben, wenn das arme Mädchen Annie nicht trotz seines Schicksals, als Waisenkind herumgereicht, verwechselt und abgelehnt zu werden, mit einem komischen, erhabenen Sprachtalent ausgestattet gewesen wäre. Wir weinten am Großen Stern, mein Mann und ich, als Barack Obama eine seiner Reden hielt. Wir weinen meistens beide, wenn die Guten sterben müssen, und wir weinen natürlich auch aus ganz privaten Gründen. Seit Raupe bei uns ist, weine ich manchmal vor Glück, wie früher meine Oma, die lachweinen konnte, wenn ich ihr als Kind entgegenlief.
Bei der Christmette vor zehn Tagen musste ich bei „Oh du Fröhliche“ weinen. Zum einen, weil es das einzige Lied war, bei dem die Kirche vollkommen erfüllt war vom inbrünstigen Chor der ganzen Gemeinde, und die Blasmusikkapelle mit jeder weiteren Strophe mehr Bläser einsetzte, so dass das einfache Lied immer kräftiger anhob, einem euphorischen Höhepunkt zustrebte. Zum anderen weinte ich, weil die kleine Mamutschka neben mir sang und ich ihre Stimme hörte. Sie singt Alt wie ich, und wir kommen beide nicht mehr hinauf in die allerhöchsten Töne, unsere Stimmen versagten an genau den gleichen Stellen. Das rührte mich so zu Tränen, dass ich ihre Hand nahm und eine Weile hielt, was ich noch nie gemacht habe in unserer Dorfkirche.
Könnt ihr mir helfen? Könnt ihr mich mal bitte drücken, mich wieder fest zusammendrücken? Ich gerate aus der Form. Ihr solltet was unternehmen, wenn ihr zu mir zu Besuch kommt, und ich euch mit wässrigen Augen begrüße.
Ich sollte mich härten. Mir fehlt die Hornhaut auf der Seele.