Vor einigen Jahren wohnte Frau Tischner in unserem Haus, eine vornehme alte Frau, die sich vermutlich nicht daran gestört hätte, als Dame bezeichnet zu werden. Sie war von graziler Statur, trug Hosenanzüge und Trenchcoat, und das silbergraue Haar wölbte sich tadellos um ihren Kopf. Begegnete ich ihr im Treppenhaus, fehlte nie ein feines Lächeln in ihrem Gesicht. Ihr Kommen und Gehen, umwölkt von einem exquisiten Parfum, schwebte lange im Fahrstuhl. Sie stammte aus einem anderen Land. Sie war übriggeblieben. In ihrer reinen Eleganz verharrte sie wie in einem eigenen Raum, in einer eigenen Zeit.
Sie war in Halle aufgewachsen, eine Bürgerin der DDR. Ihr Mann war Bauingenieur gewesen, er hatte Plattenbauten konstruiert, und Frau Tischner hatte eine Stellung als Chefsekretärin, wo, verriet sie mir nicht. Im Land der glücklichen Gleichen besaßen sie eine Villa mit Garten, sie hatten zwei Kinder.
Als ich sie einmal besuchen durfte, unterließ ich es, sie nach Parteimitgliedschaften, ihrer Treue zum Regime, ihrer damaligen politischen Gesinnung zu fragen. Wir erwähnten die DDR nicht ein einziges Mal. Es ging um etwas viel Zarteres, um die Anwesenheit ihres Mannes, der vor Jahren gestorben war.
Mein Mann ist immer bei mir, erzählte sie mir verzückt, während sie mich durch ihre kleine Seniorenwohnung führte. Schon wenn sie morgens aufstünde, würde er sie begrüßen. Sie zeigte mir die Zettel, quadratische graue Zettel, die im fensterlosen Bad am Wandspiegel hingen. Guten Morgen, meine Schöne stand auf einem, in einer leicht geneigten Handschrift. Auf einem anderen las ich Bis heute Abend, mein allerliebster Goldstern. Auf einem bat ihr Mann seine Liebste um Verzeihung und erhoffte Versöhnung. Auf einem anderen hatte er ihr ein Herz gezeichnet, das aus einem Blumenstiel wuchs. Der Spiegel in ihrem Bad war ein verborgener, heiliger Schrein. Mich erstaunte, wie offenherzig sie ihn mir zeigte. Wissen Sie, sagte sie, solche Botschaften hat er mir viele geschrieben. Wir haben uns sehr geliebt. Sie würde viel mit ihm sprechen, eigentlich den ganzen Tag. Möchtest du noch ein Brötchen, würde sie ihn fragen, wenn sie morgens alleine am Frühstückstisch säße. Sie würde sich mit ihm beraten, was es zu Mittag geben sollte. Sie würde ihm den Garten zeigen, sagte sie draußen auf ihrem Balkon, von dem wir beide hinuntersahen auf den grünen Streifen, der sich dort zwischen die hohen Stadthäuser streckte. Schau nur, die Kastanie, so würde sie sprechen, wie schön sie wieder blüht, wie unsere früher. Wenn sie am Kleiderschrank stünde, würde sie murmeln, was soll ich anziehen, mein Schatz.
Ihre Augen sprühten Funken, sie strahlten ein warmes Licht aus, während sie so erzählte. Ihr Gatte war inzwischen so gegenwärtig, als ich mit ihr am Küchentisch saß, dass es mich nicht verwundert hätte, wenn der dritte leere Stuhl mir gegenüber ein Geräusch gemacht hätte. Ich besuchte ein Ehepaar, ein verliebtes altes Paar, keine einsame Dame. So wie sie mich ansah, lächelnd versunken, gab es keinen Zweifel mehr: Sie stellte mich ihm vor. Insgeheim sagte sie, unhörbar für mich: Na, wie findest du sie? Das ist unsere Nachbarin. Eine Schwarzwälderin. Ja, ja, du hast Recht. Das merkt man sofort, sie kommt aus dem Westen.
Nach dem Besuch bei Frau Tischner, der sich nicht wiederholte, – ich weiß nicht, warum -, war sie nur noch in Begleitung, wenn ich ihr begegnet bin. Herr Tischner, hellgrauer Anzug, ordentlich gekämmt, in glänzend polierten Schuhen, stieß vor ihr die Haustür auf, um ihr den Vortritt zu lassen. Auf dem Bürgersteig ging sie bei ihm eingehakt. Im Fahrstuhl blickten sie versonnen ihr Bild im Spiegel an. Er wich ihr nicht von der Seite. Nun konnte ich es auch sehen.