Wenn ein Kind mit Fieber erkrankt, wenn es blass, das Kuscheltier im Arm, in seinem Kinderbett liegt, wir ihm Tee einflößen müssen und ihm Wadenwickel machen, wenn seine Stimme nur noch ein Hauch ist, und unsere Stimmen sich seiner anpassen, sagen wir danach, wenn es überstanden ist: Das Kind hat einen Sprung gemacht. Es ist gereift, es ist gewachsen. Was aber ist da geschehen in diesen Tagen des Fiebers? Das Kind war heiß und apathisch. Es mochte nichts essen, und es hat Gewicht verloren. Es hat einen Teil von sich selbst abgegeben. Einen physischen Teil, aber auch einen Teil seines Wesens. Aber wo sind sie hin, diese Teile unseres Kindes?
Und wo ist der Teil von mir selbst neulich hin? Ich hatte Covid mit vier Tagen Fieber. Es war kein hohes Fieber, mein Körper war nur ein Grad wärmer geworden. Offenbar reichte das aus, um mein Blut zum Köcheln zu bringen, um einen Teil von mir durch meine Haut nach draußen zu befördern. Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und das oder andere Bioelement. Ich lag nur herum, trank etwas Tee und aß appetitlos. Ich war offenporig und wurde sentimental. Isoliert in meinem Zimmer war ich süchtig nach Filmen. Während ich schwitzte, sah ich mir alle Folgen von „So long, Marianne“ an und alle Filme von Louis Malle. Meine Empathiefähigkeit verzehnfachte sich. Mein Mitleid mit uns Menschen erreichte neue Dimensionen. Alles ergriff mich, das Traurige wie das Schöne. Ich glotzte romantisch – Brecht hätte mich gekniffen.
Am Ende der Woche hatte ich Gewicht verloren. Etwa drei Kilo. Sie waren mir entwischt. Mein Körper hatte sie durch meine Poren in meinen Pyjama, von dort in das Bettzeug und das Sofa abgegeben. Deckte ich mich auf, entwichen meine Teilchen in die warme Zimmerluft. Lüftete ich, entfleuchten die Teilchen in die kühlere Herbstluft. Sie strömten über den Balkon, durch unseren Garten und über die Dächer. Sicher waren sie hemmungslos in ihrem Bestreben, sich mit anderen zu paaren, sich lustig zu verketten, luftige neue Ehen einzugehen. Dass sie, noch bis vor kurzem, meine Teilchen gewesen waren, interessierte sie nicht. Rausgeschwitzt waren sie frei. Sie schwirrten über der Stadt in einem bunten Gemisch, verbanden sich und tanzten mit anderen Teilchen, friedlich und lautlos, vermutlich auch mit Teilchen von zarten heißen Kinderkörpern und allen möglichen Leuten, die ich selbst meiden würde, völlig fern von Vorurteilen und schlechten Gedanken. Drei Kilo Chris verteilten und verflüchtigten sich und stiegen selig verwandelt hinauf zu den Wolken, bis in die Atmosphärenschichten, die unseren blauen Planeten umhüllen. So stellte ich mir das vor, als mein Fieber gesunken war: Wie wir verschwinden und wie wir entstehen. Das fand ich keineswegs traurig, einfach nur schön.
Hab ich auch einen Sprung gemacht?