Im Winter 2003, als Bär und ich uns gerade erst kennengelernt hatten, fuhren wir nach Miedzyzdroje. Wir mieteten ein Auto, nahmen die Autobahn Richtung Stettin, überquerten die Oder, und östlich von Swinemünde erreichten wir den alten pommerschen Seebadeort, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehört.
Der Ort wirkte verschlafen, heruntergekommen und etwas bizarr. An der holprigen Seepromenade, die zwischen den braunen Häusern und einem Wäldchen verlief, rosteten in einem kargen Parkstreifen Picknickgarnituren, auf einem trostlosen Spielplatz Wippe und Schaukel und Klettergerüste. Kaum noch erkennbar, dass sie einmal farbig waren. In einer offenen Baracke reihten sich Spielautomaten auf, verblichen und stumm. Beim Kinderkarusell konnte man wählen zwischen Pferden, einem Panzer und einer Hochzeitskutsche. Das Wellplattendach war gelb, in den Furchen lag Moos. Es gab auch Holzbaracken mit Tresenverkauf, in einer Baracke befand sich eine Bar. Wir mochten es so, diese Reste des Sozialismus waren irgendwie Kult, unsere Illusion einer untergegangenen, womöglich besseren Welt. Wir reisten auch in unsere Kindheit.
An der Strandpromenade lag unser Hotel, eine Gründerzeitvilla mit roter Backsteinverzierung, einem Erker mit aufgesetztem Balkon und einem seitlichen Türmchen. Der weiße Verputz zwischen dem Backstein war graubraun geworden oder abgebröckelt. Der Lack an den Fenstern blätterte ab. Ein wenig mutig und verrückt, was wir beides sein wollten, checkten wir für eine Nacht ein.
Wir lachen noch heute darüber. Über den schlaksigen jungen Mann, der uns schweigsam in eine düstere Teeküche führte, in der ein Wasserkocher, Instantkaffee und eine Packung mit Teebeuteln auf einem Tischchen bereitstand. Über die klamme Tagesdecke aus ockergelbem Polyester und über das Bett, in dem wir später unter einem Berg von schweren Decken versanken und trotzdem bibberten. Wir sahen unseren Atem in der kalten Zimmerluft. Über den schweren Vorhang am Fenster, den wir nicht hätten zuziehen sollen. Die Gardinenstange, Schrauben und Dübel lösten sich aus der Wand. Über den Ohrensessel, dessen eines Ohr abfiel, als mein Kopf dagegen lehnte, und dessen Seitenteil abbrach, als ich das Ohr wieder aufheben wollte. Über das Sofa, dessen Rückenlehne, als wir beide darauf saßen, von der Horizontalen in die Vertikale strebte, so dass wir ruckartig ausgestreckt auf einem Schlafsofa lagen. Über die Stehlampe mit den Quasten am beigen Lampenschirm, deren Glühbirne knallte, als wir sie anknipsen wollten. Über das Bad, das ein aus gelblichem Kunststoff gegossener Raum war.
Es war Februar oder März, das Zimmer war kalt, wir schienen die einzigen Gäste zu sein, und der junge Mann am Empfang war verschwunden, als wir nach ihm suchten. Ohne den Grasovka, den Büffelgras-Wodka, den wir in der Holzbaracke, in der schummrigen Bar mit Apfelsaft tranken, hätten wir die Nacht vielleicht nicht überstanden.
Heute findet man Miedzyzdroje auch unter dem Namen Misdroy und letztes Wochenende zog es uns noch einmal da hin. Mehr als zwanzig Jahre später wollten wir sehen, was aus dem Ort geworden war.
Inzwischen fuhren wir mit dem eigenen Auto. Ab dem Oderbruchdelta führt eine Autobahn, an der noch gebaut wird, direkt bis zur Küste. Wenn sie fertiggestellt ist, schafft man die Fahrt von Berlin in zwei Stunden.
Wir hatten das Hotel schon online gefunden. Ja, das ist es, sagten wir, das muss es sein. Wir erkannten die Fassade, den Korridor mit dem Läufer. Es hatte den Charme von früher, die gediegenen Möbel im Biedermeierstil, alles hochwertig, neu. Ganz und gar nicht unser Stil, aber egal. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spielt so was keine Rolle. Wir wollten noch ein Mal darin übernachten. Leider war kein Zimmer frei, Bär buchte eine Nacht in einer anderen Villa.
Mehrmals gingen wir an dem Hotel von damals vorbei. Ist es das? Kann es sein? War der Eingang zur Rezeption wirklich seitlich gewesen? Ging man durch einen Windfang? Durch einen Anbau? Hat es diese Treppe hinauf schon gegeben? Hatte unser Zimmer damals einen Balkon? Nein. Doch. Schau, da war das Zimmer und da ist einer.
Das Haus wirkte viel größer, ein Zaun und Koniferen umrahmten den Garten, boten den Restauranttischen Schutz. Zu beiden Seiten waren neue Häuser im Villenstil oder Apartmentkomplexe entstanden. Der Bürgersteig davor war glatt geteert, eine Straße und etwas erhöht die Strandpromenade liefen daran entlang. Die Rasenflächen im schmalen Park gegenüber waren grün und gepflegt, Ziergräser zitterten zwischen blühendem Salbei im Wind. Die Holzbaracke, in der wir uns mit Grasovka aufgewärmt hatten, nur wenige Meter von dem Hotel entfernt, existierte nicht mehr. Unsere Erinnerungen deckten sich nicht mit dem, was wir sahen. Nur die offene Baracke mit dem Wellplattendach und den Spielautomaten war übriggeblieben. Panzer und Hochzeitskutsche standen nebeneinander, vom Karusell abmontiert.
Was die Menschen, die hier leben oder die hierher zum Arbeiten kommen, über die Veränderungen denken, wissen wir nicht. Ob sie mitbestimmen durften, ob das Neue für sie Verbesserung ist, mehr Wohlstand und Freude, mehr Annehmlichkeit. Mögen sie die neue Fußgängerzone mit der kommunalen Toilettenanlage, mögen sie die Holzliegen und Stege in der neuen Parkanlage, die Masse an Restaurants, an Softeis- und Waffel-Kiosken rund um die Mohle, mögen sie die Gummihügel auf dem neu angelegten Abenteuerspielplatz? Mögen sie es mehr, als wir es mochten, die wir nach dem Alten suchten?
Und mögen die Menschen, die am Rand von Misdroy zusammenkommen, dort wo auf dem Sandstrand noch drei Fischkutter liegen, dort wo noch die alten Räucheröfen qualmen, wo in einfachen Buden Fisch gebraten wird, hinter einem Lagerplatz für Netze und Bojen, in einer schlichten Fischkantine, mögen diese Menschen, die Frauen in den Bratküchen, die Männer an den Öfen und ihre Gäste mit dem kleinen Portemonnaie das neue Luxus-Resort, das neben ihren windigen Buden, verborgen hinter einem Bauzaun entsteht? Werden sie es mögen, THE SEA Resort, das im Internet damit wirbt, einzigartig zu sein, weil es so nah an den Saum des Meeres herangebaut wird wie kein anderes zuvor. Werden sie stolz auf diesen gläsernen Palast sein, mit den weißen Loungemöbeln und den weißen raumhohen Lampenskulpturen, mit den begrünten Dachterrassen und den Lounge-Baldachinen am hoteleigenen Strand, wo weiß gekleidete Menschen ihre Sundowner-Cocktails schlürfen werden? Und mögen es die Fischer und Köchinnen der Fischbratereien, dass auf den Bildern des Investors, die am Baunzaun zu sehen sind, ihre Buden und das Fischerlager weiß eingehüllt dargestellt sind, dass sie unsichtbar gemacht worden sind, um nicht zu stören?
Ihre Fischkutter haben die Werber auf ihren Bildern gelassen, das hat was, diese Kutter, sie taugen als Schmuck. Und was mich heute wütend macht, weil ich es befürchte: Ob sie es mögen oder nicht, die Menschen am Rand von Misdroy werden verdrängt, nicht nur auf den Bildern.