Es war um die Mittagszeit, als ich auf der Tagesspiegel App die Eilnachricht las. Alexei Nawalny ist tot. In dem Straflager Polarwolf nördlich des Polarkreises sei er, nach russischen Behördenangaben, bei einem Hofgang zusammengebrochen. Wiederbelebungsversuche seien vergeblich gewesen. Wir hatten keine Worte mehr. Eine ernüchterte Traurigkeit legte sich auf uns, darunter brannte Wut. Aber beides führt ja zu nichts, haben wir die letzten zwei Jahre erfahren. Unsere Niedergeschlagenheit war und ist nicht angemessen. Im Geiste Nawalnys, ihm zu Ehren, nahmen wir uns vor, uns nicht aufzugeben, auch nicht das, wofür wir leben. Uns nicht brechen zu lassen.
Nachmittags schickte eine Freundin eine Nachricht, sie habe die Gänse über ihr Haus ziehen hören, ihr gackerndes Gespräch, auf ihrem Flug zurück gen Norden. Ich antwortete ihr. Ich hatte sie auch gesehen, sie flogen bei uns vorbei Richtung Karower Teiche. Eine andere Freundin hatte sie ebenfalls von ihrem Fenster aus gesichtet. Gänseflugromantik. Wir blicken in den Himmel, unsere Gedanken fliehen zu den Vögeln, wir zögen alle am liebsten mit ihnen fort. Doch wir müssen es schaffen, uns zusammenzureißen. Wir dürfen nicht schwächeln.
Am Abend fanden wir Tröstliches in einer Mediathek. Wir sahen uns DIE REISE DER PINGUINE an, Luc Jacquets Debütfilm. Darin erzählt er von den Kaiserpinguinen, die in der klirrenden Kälte der Antarktis überleben, weil sie dicht zusammenstehen, sich aneinander wärmen, weil sie mutig und zäh sind. Unsere Herzen waren wund, das versprach Linderung.
Dickbäuchig und vollgefressen springen die Pinguine aus dem kalten Meer, um hintereinander her durch die Eiswelt zu watscheln. Geduckte Gestalten in schwarzen Mänteln, ihre Flossen hängen wie kurze Arme an ihren Seiten herab. Von fern sehen sie aus wie wankende Menschen. Das hat den Polarforscher dazu inspiriert, die Tiere, im Voice Over, mit einer menschlichen Stimme erzählen zu lassen, als würden sie denken und fühlen wie wir. Das lullte uns ein, und wir schämten uns nicht.
Sie watscheln und rutschen in langen Kolonnen zwei Wochen und länger, bis sie eine Oase, ihren Brutplatz, erreichen. Dort versammeln sie sich, Weibchen und Männchen, um sich in Ruhe zu paaren. Ihr Hochzeitstanz ist zeitlupenhaft, kein Tanz, wie wir ihn kennen. Es ist ein feines, zartes Spiel. Mit größter Vorsicht nähern sie sich einander an. Sie legen die weißen Bäuche behutsam aneinander, neigen sich einander zu, streicheln sich zaghaft mit ihren Schnäbeln, ihre schwarzen kleinen Augen schließen sich verträumt. So harren sie aus. Das wärmte unsere Herzen, und wir schämten uns nicht.
Ihren Vorrat an Energie dürfen sie nicht verschwenden, denn auf die Paarung folgt das Warten. Zwei Monate lang stehen die Tiere dicht gedrängt zusammen, eine schwarze, geduckte, zusammengeschweißte Versammlung im endlosen Weiß. Sie trotzen Schneestürmen, trotzen der Eiseskälte, sie werden zugeschneit, die Versammlung sieht wie eine graue Eisskulptur aus, bis es allmählich Frühling wird. Dann werden die Eier gelegt. Jedes Weibchen legt ein kostbares Ei, aus dem der Nachwuchs schlüpfen wird. Es kommt auf den Krallen des Weibchens zu liegen, geborgen unter ihrem Bauchfell. Von der Schwangerschaft und dem Fasten ist das Weibchen so geschwächt, dass es das Ei so schnell wie möglich an seinen Partner übergeben muss. Doch wie übergibt man ein Ei, das auf den eigenen Krallen liegt und das vom Bauchfell unablässig gewärmt werden muss, das in wenigen Sekunden ohne diese Wärme auf dem Boden erfröre? Wie übergibt man das kostbare Ei auf die Krallen des Männchens? Wie geht das ohne Hände? Es geht nur mit Üben, mit Ruhe und Geduld, mit äußerster Vorsicht und Konzentration, mit Zusammenarbeit. Die das nicht beachten, ungeübte, noch junge Pinguine, verlieren bisweilen das Ei. Es fällt zwischen ihnen auf den eiskalten Boden, bricht Sekunden später auf, es wird sofort tot gefroren. Aus den Kehlen der Eltern dringen dann Jammerlaute. Ist das Ei aber übergeben, watschelt das Weibchen umgehend los, reiht sich ein in die Kolonne, die zum Ozean hinstrebt. Die ausgehungerten Weibchen watscheln und rutschen zwei Wochen über das Eis, erreichen mit letzten Kräften die Stelle, wo das Packeis einen Spalt für sie aufgelassen hat. Sie gleiten ins Wasser und fressen sich voll, verfolgt von den offenen Rachen der sie jagenden Seelöwen. Sie sind aber schnelle Schwimmer, wendig und flink, die meisten können entkommen. Dann geht es, den Bauch voller Fische, zurück zur Oase der Paarung und Aufzucht, um die Männchen abzulösen, unter deren Bauchfell, auf deren Krallen aus den Eiern inzwischen die Jungen geschlüpft sind. Ihre niedlichen Köpfchen, sie schreien nach Nahrung, die sie gleich bekommen werden aus den Schnäbeln ihrer Mütter. Mit zärtlichen Gesten lösen sich die Eltern ab. Jetzt watscheln auch die ausgezehrten Väter endlich los, um das Loch im Packeis zu erreichen. Die Weibchen mussten vier Monate auf Nahrung verzichten, die Männchen noch ein paar Wochen länger. Wie schaffen die das? Was für ein Leben voller Entbehrung. Unbegreiflich für uns, und faszinierend. Nur wenige gehen entkräftet verloren. Die Männchen gehen fischen, fressen sich voll und kehren zurück. Jetzt sind sie die Ernährer der wuscheligen, größer gewordenen Jungen. Schließlich wird es Sommer, das Packeis schmilzt, und die jungen Pinguine gehen, wie die Alten, einer hinter dem anderen her. Dann stürzen auch sie sich in den großen Ozean.
Es kam uns vor wie ein Märchen, in dem Sanftheit, Zusammenhalt und die Liebe die gnadenlose Eiseskälte besiegen. Dieser Film war Medizin, ein Antidepressivum. Die Musik war seltsam süß, die Erzählung etwas kitschig. Wir hatten nichts zu kritisieren, denn genau das brauchten wir.
Alexei Nawalny starb in der Kälte Sibiriens nicht, weil er erfror. Er wurde gequält, in Einzelhaft in einen Betonkasten gesperrt. Man hat ihm täglich zwei Becher mit kochend heißem Wasser und zwei Stücke ekliges Brot als Mahlzeit gegeben. Er bekam zehn Minuten, um diesen Fraß einzunehmen. Das zehrte ihn aus. Darüber hat er sich noch vor Tagen beschwert. Aber von seinem Schaffellmantel und seiner Mütze hat er geschwärmt, von warmen Schuhen erzählt, die er bald bekommen würde. Er hat Tage vor seinem Tod noch Witze gemacht. Er hat den Kontakt zu seiner Frau, seinen Töchtern und seiner Mutter, zu seiner Gruppe und seinen Freunden gehalten, ihnen Nachrichten aus dem Straflager geschickt. Er ließ sich nicht beugen, er war mutig und zäh in der Kälte Sibiriens. Er war gewillt zu überleben, deshalb musste er sterben.