Die Angst geht um. An ihrer rechten Hand hält sie die Verachtung. An ihrer linken Hand steht die Wut bereit. Die Angst hat üble Freunde.
Sag mir keiner, der Klimawandel mache ihm keine Angst. Es ist eine Angst, die dir das Gefühl vermittelt, ausgeliefert und machtlos zu sein. Da ist etwas im Gange, was nicht mehr aufzuhalten ist. Unser Verderben ist nah. Wir vernichten unsere eigenen Lebensgrundlagen. Wir zerstören die bestehenden Ökosysteme. Millionen von Tierarten sind und werden ausgerottet. Wir sind die Schuldigen. Jetzt kommt die Bestrafung, der Exodus, das Ende. Wir haben noch zwei Jahre, drei oder zehn, um die Hebel rumzureißen. Es besteht wenig Hoffnung, dass uns das noch gelingt. Das ist die Erzählung, die uns erwartet, wenn wir morgens aufstehen und mit der wir am Abend in unsere Betten sinken.
Womöglich haben wir Menschen auch Corona selbst verschuldet. Wir ignorieren die Grenzen und Gesetze der Natur. Wir essen Fledermäuse, wir dringen in deren Lebensraum ein. Dadurch haben wir den Virus von ihnen übernommen, das den Fledermäusen selbst gar nicht gefährlich wird. Wohl aber uns, es rafft uns dahin. Andere aber sagen, das Virus sei einem Chemielabor in China entwichen. Keiner weiß es genau, keine der Thesen ist bislang zu beweisen. Es kursieren Versionen. Ihre Erzähler ringen um die Wahrheit oder um ihren Einfluss, um ihre Macht.
Am Aufsehen erregendsten sind die Verschwörungslegenden. Sie handeln von dunklen Mächten, die sich gegen uns, das Volk, verschworen haben. Die Verschwörungslegenden sind Phantasien mit hohem Gruselfaktor. Sie passen in unsere Zeit der Dystopien. Wir sind es gewöhnt, in eine ziemlich dunkle Zukunft zu schauen, jetzt wird sie noch etwas dunkler. Rabenschwarz. Wo der Rationalist noch forscht und nach Wahrheiten sucht, hat die Verschwörungslegende schnell Klarheit geschaffen. So und so ist es. So ist es gekommen. Der und der hat Schuld, und wir sind die Opfer. Wir müssen uns wehren. Endlich blicken wir wieder durch. Ach so! Ja, klar! Endlich sagt es mal einer! Es ist eine Form von Selbstermächtigung, eine Vereinfachung des Weltbilds, die manche dringend brauchen, um wieder tief und fest schlafen zu können. Nur erfasst diese Vereinfachung die Komplexität der Wirklichkeit nicht. Die Vereinfachung ist eine Mär der Phantasie, eine Lüge, ein esoterisches Konstrukt, eine Fantasy-Geschichte, die nur in sich logisch ist.
Unser Staat lässt alle Erzählungen zu, aber was er nicht tut, ist, Verschwörungslegenden über die öffentlich-rechtlichen Medien zu verbreiten, als wenn es fundierte Wahrheiten wären, Fakten mit Beweisen.
Unser Staat lässt auch viele Parteien zu, so lange sie unser Grundgesetz anerkennen und in dessen Sinne handeln. Er lässt auch verschiedene Meinungen zu, selbst die, die intolerant gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen und Minderheiten sind, so lange sie diese nicht beleidigen, nötigen und gefährden und so lange sie noch zu erkennen geben, dass sie diesen Staat nicht als Staat in Frage stellen. Er muss sich jedoch verteidigen gegenüber jenen, die ihn und seine Institutionen auflösen wollen. Es ist das Recht und die Pflicht eines Staates dies zu tun, denn die Mehrheit seiner Bürger wünscht, dass er so bleibt, wie er ist. Sie haben ihn gewählt, sie gestalten die Gesellschaft mit seinen Regeln. Es geht ihnen gut in diesem Staat. Sie sind mit ihm einverstanden.
Was verloren gegangen ist in diesen Zeiten der großen Angst, ist der gemeinsame Ort, an dem gestritten werden kann, leider auch eine gemeinsame Sprache und Kultur, mit der man sich begegnen könnte. Der Andersdenkende wird verachtet. Je radikaler die eigene Gesinnung, um so mehr wird der Andersdenkende als Feind angesehen, der bekämpft werden muss. Das ist, wovor ich mich fürchte: Vor der Radikalisierung des Denkens, aus dem Grausamkeiten und Menschen verachtende Taten hervorgehen.
Meine Angst hält Trauer und Entsetzen an ihren Händen.