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Der funkelnde Junge

Wir feiern im Bötzow-Viertel mit einem mit uns befreundeten Paar. Raupe feiert mit ihrem Stamm auf der Burg Lohra, die sicher bitterkalt ist und in Thüringen liegt. Der Junge unserer Freunde, er heißt David und ist acht Jahre alt, ist mit uns, vier fröhlichen Alten, an diesem Abend allein. Er freut sich wie Bolle. Es ist die erste Silvesternacht, in der er aufbleiben darf. David ist zart und aufgeweckt wie ein junges Hündchen. Er ist immer im Laufschritt, hüpfend unterwegs, von einem Zimmer ins nächste und um uns herum. Im hinteren Wohnzimmer steht eine Etagere voll bepackt mit Knallbonbons, mit Tischfeuerwerken, Wunderkerzen und Kram. Das wartet alles auf ihn, und er wartet darauf, bis was Spannendes los geht. Bis dahin schaut er sich eine Avatar-Serie an, auf seinem IPad, später spielt er auf dem Smartphone irgend so ein Rennspiel, bei dem Bots und Avatare über Hindernisse springen. Die Figuren ziehen „2023“ als Spuren hinter sich her während des Wettlaufs. David kommt zu uns, möchte, dass ihm jemand zuschaut. Papi setzt sich neben ihn, dann setze ich mich zu ihm, dann auch die Mami. Zwischendurch kommt er in die Küche gewirbelt, nimmt geraspelten Käse zwischen seine zarten Finger und springt, während er die Käsefäden in seinen Mund fallen lässt, wieder zwischen uns durch, aus der Küche hinaus. Käseraspel auf dem Boden von Davids vielem Rein und Raus. Er saust lebensfroh um uns Alte herum.
Wir heben unsere Kelche mit dem Limonicello-Aperitiv und David stößt mit seinem Glas roter Limo mit uns an. Beim Hauptgang, – er bekommt Spaghetti mit viel Käseraspel und mit einer Bolognesesauce in einem Schälchen daneben -, kündigt er an, dass er jetzt fein essen werde, wegen uns, dem Besuch, und dem besonderen Anlass. Er dreht die Gabel mit seinen beiden zarten Händen, die Gabel sieht in seinen Händen wie eine Heugabel aus. Er dreht sie auf seinem Teller, bis fast alle Spaghetti, die auf seinem Teller waren, sich um sie geschlungen haben. David ist stolz und will es versuchen, die ganze Portion auf einmal in den Mund. Sein Mund ist zu klein, wie soll das denn gehen? Er schüttelt die Nudeln wieder von der Gabel, piekst von neuem in den blassgelben Berg aus Käse-Spaghetti, er dreht die Gabel einmal um, und weil Mami nicht hinschaut, stopft er sich die herabhängenden Biester mit den Fingern in den Mund. Was nicht rein will, beißt er ab und lässt es fallen, er mampft mit vollen Backen. Mami schaut nicht hin und Papi auch nicht. Seine Eltern, deren Aufmerksamkeit ihm sonst ungeteilt gehört, wenden sich den Gästen zu. Ist die Moussaka gelungen, wird gerade verhandelt. Die ist nämlich vegan, mit Mandelmilch und Kokosfett hat Mami die Sauce, die Bechamel heißt, nervös zubereitet. Schmeckt das nun oder nicht? Über so was reden die, die fröhlichen Alten.
Dann reden sie über was, was David schon oft zuhause aufgeschnappt hat. Sie reden über Exposés und kriegen sofort ein paar mehr Falten in ihre Gesichter. Was das eigentlich ist, weiß David nicht wirklich. Er hat Papi nie gefragt, aber es muss was Blödes sein, was, womit sich sein Papi bei seiner Arbeit oft abmüht. Papi hat schon sehr viele solche Exposés geschrieben, und die schickt er wohin. Und dann wartet er immer und seine Laune wird mies. Deshalb mag David ihn auch gar nicht fragen, was das eigentlich ist. Er weiß nur, dass es dabei auch um Geschichten geht und ums Verkaufen. Aber was hat das miteinander zu tun? Eine Geschichte ist doch etwas, was man sich erzählt oder die man sich vorliest. Die kommen aus Papis Mund oder aus Mamis, und sind sofort in seinem Kopf und vor seinen Augen. Die entstehen zwischen ihnen. Ist doch kein Brot und keine Hose, so eine Geschichte. Ist doch keine Vase oder kein Filzkissen, was seine Mami in ihrem Laden verkauft. Wie kann man Geschichten verkaufen, die in der Luft herumschwirren, die im Kopf drinnen sind, die man in sich herumträgt, die sich ständig verändern können, die entstehen und vergehen? Und wie soll man berechnen, was so eine Geschichte kostet? Ist sie nicht unbezahlbar? Oder sollte umsonst sein? Sie gehört doch uns allen, denkt David. Sein Papi erzählt ihm ständig Geschichten, beim Essen am Tisch, oder abends an seinem Bett. Mami liest ihm welche vor. Aus Büchern. Ja. Bücher. Die muss man bezahlen. Das sieht David ein, weil Bücher sind Papier und Tinte und Leim. Das sind Geschichten, die man anfassen kann. Die kauft Mami im Laden und stellt sie dann ins Regal. Papis Exposés verstecken sich im Computer, die kriegt er nie zu hören, die bleiben unsichtbar.
David ist froh, als die verbliebenen Spaghetti auf seinem Teller mit den Exposé-Falten vom Tisch geräumt werden und er wieder aufstehen und herumwirbeln darf. Endlich darf er das Tischfeuerwerk zünden. Es geht hoch mit einem Puff, es regnet Konfetti und Herzchen, kleine Hufeisen aus Plastik, Käfer und Schornsteinfeger, alles ganz mini. Draußen knallt es und böllert. Ein Heulen und Prasseln kann David hören, als die Balkontüren geöffnet werden. In dem Himmelstreifen zwischen den Häusern sieht David kleine, orange leuchtende Körper, die in den schwarzen Himmel schießen, aus denen es dann grüne, rote und weiße Funken regnet. Die bleiben eine Sekunde da oben, dann erlöschen sie wieder. Knall, ein Leuchten von Funken, Erlöschen, wieder dunkel. Knall Zisch, ein Glitterregen, Erlöschen, und wieder dunkel. Böller Böller Knall Zisch. Kanonenschläge in der Ferne, die widerhallen. Aufregend ist das, fast etwas bedrohlich. Schnell läuft er zurück, hinein zu den Alten. Er bringt die Wachsfiguren zum Gießen an den Tisch. Blei sei verboten, die Wachsfiguren, erklärt seine Mami, sind ihr Ersatz. Sie schmelzen gut auf Davids Löffel, aber ins Wasser geworfen entstehen nur flache Inseln. David ist enttäuscht. „Warte“, sagt Papi, „ich gieß dir eine Figur.“ Er schleudert seine Wachssauce mit einer schnellen Kippdrehung ins Wasser. Dabei fallen heiße Wachstropfen auf Davids zarte Hand. Die fremde Frau, die heute Gast ist, träufelt gleich kaltes Wasser darauf, dann kommt Mami. Zum Glück, denn er weint. Sie nimmt ihm das Wachs ab, hält ihm die Hand unters fließende kalte Wasser, schmiert Brandsalbe darauf. Keine Minute später steht er wieder am Tisch und nimmt die nächste Wachsfigur, um sie auf dem Löffel über die Flamme zu halten. Es ist sein erstes Silvester. Er freut sich seines Lebens. Springt auf den Balkon, wieder rein in die Wohnung, hin und her, hin und her, raus und wieder rein. Einmal erschrickt ihn eine Rakete, die, als er draußen ist, am Balkongeländer ganz nah vorbeizischt. Er rennt bis nach hinten ins Berliner Zimmer, an den Gästen vorbei, wirft sich aufs Sofa, rollt sich ein in Embryostellung. Er ruft, „Mami, Mami!“. Sie kommt, kniet sich vor ihn hin, spricht sanft und ruhig mit ihm. Eine Minute später ist er wieder auf den Beinen. Sein Lachen hüpft ihm voraus, seine Freude ist funkelnd.

Draußen in den Straßen werden in dieser Nacht 120 Millionen Euro verschossen. Es kracht wie beim Einschlag von Granaten, es zischen die Euros sinnlos in den Himmel. Aus Schuss-Feuerwerk-Batterien, siebzig Euro das Stück, aus dem Bombettensturm, 150 Schuss für 143 Euro. Deto-Nation heißen die Kanonenschläge, die es für drei Euro gibt und die sich jeder leisten kann. Je lauter, je idiotischer kommt uns das inzwischen vor. Und weil friedliches Feiern langweilig ist und irgendeine Aggression irgendwie halt heraus muss, werden Passanten mit Kanonenschlägen beworfen, vermummen sich ein paar Idioten und greifen Feuerwehrleute und Einsatzfahrzeuge an, sie errichten Barrikaden, gehen mit Schlagstöcken und Schreckschusspistolen auf die Einsatzkräfte los, sie zünden sogar einen Reisebus an. Ein Dachstuhl, ein Keller, ein Laden brennt aus, es gibt mehrere Brände in dieser Nacht in Berlin, über dreißig Verletzte bei Feuerwehr und Polizei, die zu den Einsätzen müssen. Das Klinikpersonal hat diese Nacht viel zu tun. 120 Millionen Euro wurden verpulvert und sie haben Krieg gespielt. Weil in Frieden zu leben so scheißlangweilig ist. Zu ruhig, zu wenig Action.
Unsere schönste Rakete, die die ganze Nacht glühte und Funken sprühte war David, ein zarter fröhlicher Junge.

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