Heute begann mein sechzigstes Jahr. Raupe und Bär sangen mir im Out-of-bed-Look morgens ein Ständchen, eine gelbe Kerze brannte, fünf Sonnenblumen strahlten mich an. Es gab den ersten Kaffee auf unserem Südbalkon. Der Wind wehte durch die Apfelrosen und Mandarinenbäumchen, er trug das leise Rattern einer U-Bahn heran. Mauersegler trillerten „witt witt“, schwirrten über die Häuser, Tauben turtelten unten im Garten auf dem Schaukelgerüst. Noch liefen die knatternden Stemmeisen im Nachbarhaus nicht.
Bär schenkte mir ein Buch vom Verbrecher-Verlag und ein smartes Gerät, mit dem die Menschheit besser zurechtkommen soll. Ich habe es mir gewünscht, wegen der Kamera, die in dem Gerät ist – Bär kann nichts dafür. Raupe schenkte mir ein Bild. Eine Bleistiftzeichnung, an der sie drei Tage lang gearbeitet hat. Sie hat Striche gezogen, wieder ausradiert und neue gezogen, Licht und Schatten schraffiert, mit einem Tongraphitstift auf Zeichenpapier. Eine Elefantenkuh, die ihr Junges mit ihrem Rüssel schützend umarmt, blickt mir von dem Bild freundlich entgegen. Meine Dankbarkeit für das Smartphone war groß, meine Freude über das Elefanten-Bild jedoch eindeutig größer. Tiefer, ohne Worte.
Aus der Welt der noch greifbaren Dinge stamme ich. Aus der Handwerkerwelt, der Handarbeitswelt, der Handschriftenwelt. Ein Wohlstandskind bin ich, das keinen Hunger erlitten, keinen Krieg miterlebt hat. Ich bin privilegiert, in einem demokratisierten Deutschland geboren, in einem Land aufgewachsen, das sich nach dem Holocaust und zwei verheerenden Kriegen um Frieden in Europa und auf der Welt bemüht. Ich werde erben, was wiederaufgebaut wurde. Ich werde dieses Erbe, um meinen Beitrag erweitert, weitervererben. Gutes wie Schlechtes. Ich gehöre zur Boomer-Generation, die für die Nächsten auch einen Haufen Probleme hinterlässt, die sie zwar noch erkannt, aber nicht mehr gelöst hat. Wenn es gut läuft, bleiben von mir ein paar Geschichten, die vielleicht gelungen sind, ein paar wärmende Gedanken, und die Spuren meiner Liebe in Raupe. Ich bin eine Frau und ein Arbeiterkind. Über all diese Dinge möchte ich schreiben.