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Coronation Tea

Heute sind wir in London in seinem nobelsten Viertel St. James’s unterwegs. Der Buckingham Palace, den wir Raupe zeigen wollen, wird beeindruckend sein, ein überragendes Bauwerk, Herrlichkeit und Glanz. Doch was dann vor uns auftaucht, am Ende der Allee, ist seltsam enttäuschend. Ein weißer Klotz mit grauen Fenstern und davor ein schwarzer Zaun. Macht auch nicht mehr her als das Berliner Schloss, das wiederaufgebaut wurde. Macht eher weniger her. Es könnte auch ein Ministerium sein. Trotzdem stecken die Touristen ihre Smartphones durch den Zaun, um zu fotografieren und zu filmen, was sich ihnen darbietet. Zwei Leibgardisten mit Bärenfellmützen, die zwischen Wachpostenhäuschen wie Spielzeugsoldaten staksig marschieren. Verstehe ich nicht. Warum um Königsfamilien, um diese Wachmannfiguren und diesen Brocken von Palast so ein Hype gemacht wird. Auch Raupe ist längst gelangweilt und fühlt sich im Pulk der Touristen bedrängt. Sie fährt zur Erholung mit Bär Richtung Themse, sicher oben und ganz vorne in einem Doppeldeckerbus. Während ich noch ein wenig bei der Brunnenskulptur mit Queen Victoria bleibe, deren lange Regentschaft (63 Jahre) als Englands Blütezeit gilt. Sie sitzt in weißem Marmor besonnen auf ihrem Thron. Während sie das Zepter schwang, brachte sie nebenbei neun Kinder zur Welt, was mir wirklich Eindruck macht.

Ich erreiche als erste das Fortnum & Mason, wo Bär für uns einen Tisch reserviert hat. Er freut sich schon seit Wochen darauf, auf einen Hauch von Noblesse, den exquisiten englischen Tee, auf Scones mit Clotted Cream. Das von einem ehemaligen Kammerdiener des königlichen Hofes gegründete Teehaus befindet sich in der Piccadilly Street, an der Luxusmeile Londons. Türkisfarbene Arme an der Fassade halten Laternen, mit goldenen Lilien geschmückt. Das Federkleid eines Pfaus fächert sich blaugrün auf über dem Eingang. Dicht und vorwärtsdrängend ist der Fußgängerstrom, ich werde bis zur Drehtür weitergeschoben.

Drinnen im Teehaus erlischt der Verkehrslärm, und meine Füße versinken im Hochflor eines Teppichs, wie ich ihn aus peniblen Schlafzimmern kenne. In einem himbeerfarbenen Flor. Kronleuchter funkeln. Runde Teedosentürme, ein gläserner Stand mit feinsten Patisserien, Theken aus Edelholz mit Schmuckdosen, gefüllt mit Bisquits, mit Marmeladen und Marons bilden ein von zartem Türkis und Himbeerrot dominiertes, fein abgestimmtes Waren-Arrangement. Das Dekor ist exotisch, Äffchen, Palmen, Elefanten, die Bohne des Kakaos und die Bohne des Kaffees, golden sind die Schnörkel, Palmenblätter und Ranken. Eine Treppenspirale, das Geländer filigran und vergoldet, windet sich nach oben.

Auch die Kundschaft ist aus Gold und duftet nach Essenzen. Die Fingernägel der Frauen, die über Dosen klickern, sind lang und lackiert, die Männer müssen Stammkunden eines Barbershops sein. Rein und seidenmatt glänzen ihre Gesichter, glatt und sauber die Schuhe, ihre Sohlen sind weiß.

Ich fühle mich fehl am Platz mit meinen bequemen Outdoor-Sandalen. An meiner Seemannshose sind die metallenen Knöpfe mattgerieben. Mein Lederrucksack ist an den Kanten abgestoßen. Meine Lippen sind verblasst, meine Augen ungeschminkt. Sie waren gerötet am Morgen.

Meine Schönheit und mein Reichtum sind eben nicht so offensichtlich, coache ich mich und nehme schwungvoll die Stufen zum Parlow Restaurant. Dort wende ich mich an zwei Frauen, makellos und ohne Alter, in schwarzen Kostümen, die am Empfangstresen stehen. My husband has ordered a table for three. Ich nenne Bärs Namen. Sie finden ihn nicht auf ihrem Tablet, schicken mich höflich lächelnd nach oben. In den Diamond Jubilee Tea Salon.

Ich nehme einen der drei Treppenaufgänge, an dessen Wände weiße Teetassen prangen, mit goldenen Flügeln, auch der Handlauf ist golden. Mit jeder höheren Etage, die ich erreiche, scheint das Warenangebot exklusiver zu werden. Accessories and Gifts, Fragrance, Grooming and Beauty. Im dritten Stock sieht es aus wie bei Tiffanys oder Swarovski. Schmuckvitrinen wie Altäre, viel Geglitzer unter Glas in einem weißen hohen Raum.

Ganz oben angelangt erwarten mich wieder zwei Frauen im schwarzen Kostüm. Ohne Alter, makellos. Sie lächeln mir entgegen, als hätten sie das Lächeln der Frauen im Ground Floor wie eine Maske übernommen. Auf ihrer Liste steht Bärs Name. Hurra, ich bin richtig. Ich werde gebeten zu warten, neben einem Bechstein-Flügel, auf einem Chaiselongue.

Sehr angenehm, etwas abseits zu sitzen, gegenüber dem Fahrstuhl und dem Treppenaufgang. Ich beobachte ungestört das Kommen und Gehen und kann einen Blick in die Teesalons werfen. Es scheint zwei davon zu geben oder der Diamond Jubilee Tea Salon besteht aus zwei Teilen. Indische Kellnerinnen und Kellner huschen vorbei. An ihren Zeigefingern hängen zarte Etageren. Darauf goldgelbe Scones, nach denen Bär sich verzehrt, Petits Fours und fingerbreite Sandwichstreifen, appetitlich dekoriert. Die kleinen Speisen wirken wie aus Porzellan, zu schön um sie zu essen.

Ein hagerer Mann in einem wie Seide glänzenden Anzug setzt sich an den Flügel und fängt an zu spielen. Sein Klavierstück klingt wie ein Bächlein, samtig und klar. Das gedämpfte Teestundengeklapper, das aus den Salons dringt, wird von beschwingter Unbeschwertheit atmosphärisch ergänzt. Als der Mann am Flügel mit dem nächsten Stück sein Medley fortsetzt, hebt vor dem Fahrstuhl Gesang an. Eine junge Schönheit, prachtvolles Haar, singt zu seiner fröhlichen Weise. Sie schaut den Mann am Flügel an, ihre Stimme hat Volumen, der Mann ist begeistert. Ihr opernhafter Gesang animiert ihn zu einem rhythmischen Nicken, er wiegt sich hin und her auf dem Hocker wie eine Weide im Wind. Der Mann gerät fast ins Schunkeln. Auch ich gerate in Verzückung, berauscht von Glanz und Herrlichkeit.

Die Teesalons rechts und links beginnen zu schweben, mit ihren weißen runden Tischen auf den weichen Teppichböden. Die Kronleuchter streuen göttliches Licht, die indischen Kellnerinnen und Kellner durchqueren lautlos den Raum, engelsgleich, als würden sie keinen Boden berühren. Mühelos ist ihr Dienen. Die Gesellschaft an den Tischen macht erhabene Geräusche, wie in himmlischen Gefilden, von der Erde losgelöst. Sind die Stuhlpolster vielleicht sogar aus Marzipan? Aus Puderzuckerglasur die Kassetten an der Decke, die golden verziert sind? Ist hier alles aus Zucker? Bin ich im Elysium?

Als Bär und Raupe auf einmal aus dem Fahrstuhl steigen, Raupe in ihren Jeans und den ausgelatschten Sneakern und Bär in seiner schief gezogenen Regenjacke, mit Taschen und Tüten behangen, führt uns eine der Frauen im schwarzen Kostüm an unseren Tisch. Jetzt zweifle ich nicht mehr, dass auch wir gleich erlesensten Genüssen teilhaftig werden.

Wir schlagen die weißen Speisekarten auf, die uns die Kellnerin bringt, beginnen zu lesen. Und zu lesen gibt es viel. Zu jeder Teemischung wird über deren Entstehung, deren Duft und Geschmack sowie deren Verbindung zum königlichen Hof eine huldvolle, kleine Geschichte erzählt. Zu Ehren eines Königs oder einer Königin, zu deren Jubiläum, anlässlich einer Krönung wurden die Fortnum & Mason Teesorten entwickelt: Der Afternoon Blend, der Victoria Grey, der Queen Anne Blend, der Royal Blend Tea, der Smoky Earl Grey, und wie sie alle heißen. Ich scherze mit der Kellnerin, die an unseren Tisch kommt. Maybe, sage ich, it could last an hour! Die Kellnerin nickt leicht irritiert und entfernt sich rückwärtsgehend. Wer nimmt welchen Tee? Wer welche Scones? Welche Sandwich-Finger-Mischung? Raupe würde am liebsten alles probieren, sie hat großen Hunger, Bär wäre mit seinen Scones hochzufrieden, tut sich nur schwer, einen Tee auszuwählen. Jeder Tee wird als Erlebnis angepriesen, was man nicht versäumen sollte.

Es zieht sich hin, bis wir unten auf einer Seite einen Preis entdecken. Und bis wir ihn verstehen, dauert es noch etwas länger. Ein Gedeck, heißt es da, koste 80 Pfund. Ein Gedeck besteht aus einer Kanne Tee und einer Etagere. Wir schlucken. 80 Pfund. Neunzig Euro. Okay, entscheiden wir Eltern, wir teilen uns eins. Raupe schmollt. Wir beugen uns zu ihr und reden leise auf sie ein. Da kommt die Kellnerin zurück, die Hände gefaltet auf ihrem Rücken. Bär bestellt in seinem fließenden Englisch das gewünschte Gedeck, doch die Kellnerin belehrt uns. Wir müssten drei Gedecke nehmen, sagt sie und schaut, ohne Regung zu zeigen, auf uns herab. Vermutlich sehen wir entsetzt aus. Sie könne uns gerne den Manager holen, schlägt sie uns vor. Nein, nein, stammeln wir. Das sei wirklich nicht nötig. Just one minute, sagt Bär, wir hätten es gleich. Als die Kellnerin sich zurückzieht, stecken wir unsere Köpfe zusammen. Wir sollten gehen, flüstere ich, und wir nicken einvernehmlich. Ruhig und entschlossen greifen wir nach unseren Jacken.

Dort, wo wir leben, sind wir nicht arm, hier aber schon. Wir kaufen im Ground Floor noch zwei Dosen Tee, Geschenke für Freunde. Dann stoßen wir uns durch die Drehtür ins Freie. Den Boden unter den Füßen trinken wir unseren Tee in einem türkischen Diner, drei Häuser weiter. Wir sind unter unseresgleichen und essen uns satt.

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