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Coronation Tea

Wir gehen am Wellington-Denkmal vorbei und biegen ein in die lange Platanenallee in Erwartung einer prachtvollen, blendenden Erhebung. Der Buckingham Palace, den wir Raupe zeigen wollen, wird beeindruckend sein, ein überragendes Bauwerk, Herrlichkeit und Glanz. Doch was dann vor uns auftaucht, am Ende der Allee, ist für Raupe enttäuschend. Selbst für uns, die wir ihn kennen von früher. Macht auch nicht mehr her als das Berliner Schloss, das wiederaufgebaut wurde. Macht eher weniger her. 775 Zimmer verbergen sich, sagt Bär, hinter den milchigen Scheiben. 40.000 Lampen. Dieser Klotz könnte auch ein Ministerium sein.

Davor verteilen sich vier hüftschmale Wachpostenhäuschen. Zwei Leibgardisten mit Bärenfellmützen, die sich wie aufgezogene Spielsoldaten die Beine vertreten, sorgen für Unterhaltung. Asiatische Touristen filmen das staksige Marschieren mit ihren Smartphones. Verstehe ich nicht. Warum überhaupt so ein Hype gemacht wird um Königsfamilien, um diese Wachmannfiguren und diesen Brocken von Palast. Eine Zierde sind höchstens der Zaun mit den Tudorrosen und das gewölbte schwarze Haupttor mit den goldenen Lilien und den königlichen Wappen, darin der Löwe und das Einhorn. Eindrücklich ist auch die Brunnenskulptur auf dem Platz davor, das barocke Denkmal aus weißem Marmor, der aus dem Vinschgau entstammt, wie ich später lesen werde. Unter der goldenen beflügelten Siegesgöttin, deren Haupt ein Lorbeerkranz schmückt, findet sich, vom Palast abgewandt, Queen Victoria auf ihrem Thron. Die fotografiere ich dann doch. Ihre Körperhaltung ist souverän und besonnen, ihr Gesichtsausdruck nicht gerade amused. Die 63 Jahre, die sie regiert hat, gilt als Blütezeit Englands, wie es immer wieder heißt. Während sie das Zepter schwang, brachte sie auch noch neun Kinder zur Welt. Hallo Victoria, wie, bitteschön, hast du das gemacht?

Raupe, Bär und ich trennen uns für eine Stunde. Ich muss mir ein neues Tagesticket für die Busse und Bahnen besorgen, und Raupe hält es nicht mehr aus im Gedränge der City. Sie nimmt mit Bär einen Doppeldeckerbus, sie fahren ab Richtung Themse.

So erreiche ich als erste das Fortnum & Mason, wo Bär für uns einen Tisch reserviert hat. Er freut sich schon seit Wochen darauf, auf einen Hauch von Noblesse, den exquisiten englischen Tee, auf Scones mit Clotted Cream.

Das von einem ehemaligen Kammerdiener des königlichen Hofes gegründete Teehaus befindet sich in der Piccadilly Street, der Luxusmeile Londons. Türkisfarbene Arme an der Fassade halten Laternen, auch sie sind wieder mit goldenen Lilien geschmückt. Das türkisblaue Federkleid eines Pfaus fächert sich auf über dem Eingang, doch es gelingt mir nicht es zu fotografieren, so dicht und vorwärtsdrängend ist der Fußgängerstrom. Ich werde bis zur Drehtür weitergeschoben.

Drinnen im Teehaus erlischt der Verkehrslärm, und meine Füße versinken im Hochflor eines Teppichs, wie ich ihn aus spießigen Schlafzimmern kenne. In einem himbeerroten Flor. Kronleuchter funkeln. Runde Teedosentürme, ein gläserner Stand mit feinsten Patisserien, Theken aus Edelholz mit Schmuckdosen, gefüllt mit Bisquits, mit Marmeladen und Marons bilden ein von zartem Türkis und Himbeerrot dominiertes, fein abgestimmtes Waren-Arrangement. Das Dekor ist exotisch, Äffchen, Palmen, Elefanten, die Bohne des Kakaos und die Bohne des Kaffees, golden sind die Schnörkel, Palmenblätter und Ranken. Eine Treppenspirale, das Geländer filigran und vergoldet, windet sich nach oben.

Auch die Kundschaft ist aus Gold und duftet nach Essenzen. Die Fingernägel der Frauen, die über die Dosen klickern, sind lang und ohne Makel, die Männer müssen Stammkunden eines Barbershops sein. Kosmetisch geschönt sind die Gesichter. Kein Schuh ist schmutzig, ihre Sohlen sind weiß.

Ich fühle mich fehl am Platz mit meinen bequemen Ecco-Sandalen. An meiner Seemannshose sind die metallenen Knöpfe mattgerieben. Mein Lederrucksack ist an den Kanten abgestoßen. Meine Lippen sind verblasst, nicht mal meine Wimpern habe ich getuscht, weil ich die Augen schonen musste. Sie waren gerötet am Morgen.

Unsere Schönheit und unser Reichtum sind eben nicht so offensichtlich, coache ich mich selbst und nehme schwungvoll die Stufen zum Parlow Restaurant. Dort wende ich mich an zwei makellose Frauen in schwarzen Kostümen, die am Empfangstresen stehen. My husband has ordered a table for three. Ich nenne Bärs Namen. Sie finden ihn nicht auf ihrem Tablet, schicken mich freundlich lächelnd nach oben. In den Diamond Jubilee Tea Salon. Zur Teatime im Tea Salon, aber natürlich.

Ich nehme einen der drei Treppenaufgänge, an dessen Wände weiße Teetassen prangen, mit goldenen Flügeln, auch der Handlauf ist golden. Mit jeder höheren Etage, die ich erreiche, scheint das Warenangebot exklusiver zu werden. Accessories and Gifts, Fragrance, Grooming and Beauty. Im dritten Stock sieht es aus wie bei Tiffanys oder Swarovski. Ich sehe nur noch Schmuckvitrinen, Geglitzer unter Glas in einem weißen hohen Raum. Ganz oben angelangt erwarten mich wieder zwei Frauen im schwarzen Kostüm hinter einem Edelholzpult. Sie lächeln mir entgegen, als hätten sie das Lächeln der Frauen im Ground Floor wie einen Stab übernommen. Auf ihrer Liste steht Bärs Name. Diesmal bin ich richtig, aber Bär und Raupe sind noch nicht da. Ich werde gebeten, hinter ihnen auf einem Chaiselongue zu warten. Neben einem Bechstein-Flügel.

Es ist angenehm, etwas abseits zu sitzen, gegenüber dem Fahrstuhl und dem Treppenaufgang. Ich beobachte ungestört das Kommen und Gehen, sehe auch in die Teesalons hinein. Es scheint zwei davon zu geben oder der Diamond Jubilee Tea Salon besteht aus zwei Teilen. Indische Kellnerinnen und Kellner huschen vorbei. An ihren Zeigefingern hängen Etageren. Darauf goldgelbe Scones, nach denen Bär sich verzehrt, Petits Fours und fingerbreite Sandwichstreifen, appetitlich dekoriert. Die kleinen Speisen wirken wie aus Porzellan aus, zu schön um sie zu essen.

Ein hagerer Mann mit schütterem Haar in einem hellgrauen seidenglänzenden Anzug setzt sich an den Flügel und fängt an zu spielen. Sein Klavierstück plätschert, klingt wie ein Bächlein samtig und klar. Das dezente gedämpfte Teestundengeklapper, das aus den Salons dringt, wird von beschwingter Unbeschwertheit atmosphärisch ergänzt, diskret überlagert. Als der Mann am Flügel mit dem nächsten Stück sein Medley fortsetzt, hebt am Fahrstuhl Gesang an. Eine junge Schönheit, prachtvolles Haar, singt mit einem fröhlichen Gesicht. Die Aufmerksamkeit, die ihr dadurch zuteil wird, kümmert sie nicht. Der Mann am Flügel ist begeistert. Ihr kräftiger opernhafter Gesang animiert ihn zu einem rhythmischen Nicken und sein Oberkörper wiegt sich hin und her, wie eine Weide im Wind. Der Mann gerät fast ins Schunkeln. Er strahlt zu ihr hinüber, bis aus dem rechten Salon ein Jüngerer auftritt. In schwarzem Hemd und Oxfordboots deutet dieser, unterwegs zum Fahrstuhl, eine Tanzfigur an. Er dreht sich zweimal auf Zehenspitzen um die eigene Achse, stoppt abrupt und reißt die gestreckten Arme nach oben, bevor er sich lockert und mit saloppem, breitem Grinsen der Sängerin entgegen geht. Er küsst sie auf die Stirn. Dann öffnet sich der Fahrstuhl, nimmt beide in sich auf und lässt sie verschwinden.

Die Teesalons bekommen etwas Schwebendes mit ihren weißen runden Tischen auf den weißen Teppichböden. Die Kronleuchter funkeln und streuen warmes Licht, die indischen Kellnerinnen und Kellner durchqueren lautlos den Raum, als würden sie fliegen. Mühelos ist ihr Dienen. Die Gesellschaft an den Tischen macht erhabene Geräusche. Statisten im Elysium, in himmlischen Gefilden, von der Erde losgelöst. Sind die Stuhlpolster in mintgrün, in Nilwasser-grün, wie die Farbe heißt, vielleicht aus Marzipan? Aus Puderzuckerglasur die Kassetten an der Decke, die golden verziert sind? Ist hier alles aus Zucker?

Als Bär und Raupe endlich aus dem Fahrstuhl steigen, Raupe in ihren Jeans und den ausgelatschten Sneakern und Bär in seiner schief gezogenen Regenjacke, mit Taschen behangen, führt uns eine der Frauen im schwarzen Kostüm an unseren Tisch. Jetzt zweifle ich nicht mehr, dass auch wir gleich an erhabenen Genüssen teilhaben werden.

Wir schlagen die weißen Speisekarten auf, die uns die Kellnerin bringt, beginnen zu lesen. Und zu lesen gibt es viel. Zu jeder Teemischung wird über deren Entstehung, deren Duft und Geschmack sowie deren Verbindung zum königlichen Hof eine huldvolle, kleine Geschichte erzählt. Zu Ehren eines Königs oder einer Königin, zu deren Jubiläum, anlässlich einer Krönung wurden die Fortnum & Mason Teesorten entwickelt. Der Afternoon Blend, der Victoria Grey, der Queen Anne Blend, der Royal Blend Tea, der Smoky Earl Grey, um nur einige zu nennen. Ich scherze mit der Kellnerin, die nicht allzu lange wartet, bis sie zur Bestellung an unseren Tisch kommt. Es könnte etwas dauern, bis wir eine Wahl getroffen haben würden. It could last an hour! Die Kellnerin nickt leicht irritiert und entfernt sich rückwärtsgehend. Wer nimmt welchen Tee? Wer welche Scones? Welche Sandwich-Finger-Mischung? Raupe würde am liebsten alles probieren, sie hat großen Hunger, Bär wäre mit seinen Scones hochzufrieden, tut sich nur schwer, einen Tee auszuwählen. Jeder Tee wird wie ein Erlebnis – einmalig, unnachahmlich – angepriesen, was man nicht versäumen sollte. Ich entscheide mich schließlich für Queen Victorias Tee.

Es zieht sich hin, bis wir unten auf einer Seite einen Preis entdecken. Und bis wir ihn verstehen, dauert es noch mal. Ein Gedeck, heißt es da, koste 80 Pfund. Ein Gedeck besteht aus einer Kanne Tee und einer Etagere. Wir schlucken. 80 Pfund. Neunzig Euro. Okay, entscheiden Bär und ich, dann teilen wir uns eins. Raupe schmollt, wie beugen uns zu ihr und reden leise auf sie ein. Da kommt die Kellnerin zurück, die Hände gefaltet auf ihrem Rücken, Bär bestellt in seinem fließenden Englisch, doch die Kellnerin belehrt uns. Wir müssten drei Gedecke nehmen, sagt sie und schaut, ohne Regung zu zeigen, auf uns herab. Vermutlich sehen wir entsetzt aus, denn sie fragt uns sofort, ob sie den Manager für uns holen solle. Nein, nein, stammeln wir. Das sei wirklich nicht nötig. Just one minute, sagt Bär, wir hätten es gleich. Als die Kellnerin sich zurückzieht, sage ich: Los, wir gehen, und wir greifen entschlossen nach unseren Jacken.

Dort, wo wir leben, sind wir nicht arm, hier aber schon.

Wir kaufen im Ground Floor noch zwei Dosen Tee, Geschenke für Freunde. Dann stoßen wir uns durch die Drehtür ins Freie. Drei Häuser weiter, in einem türkischen Diner, trinken wir unseren Tee und essen uns satt. Für ein Zehntel des Geldes.

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