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Alt werden, jung sterben

Ich möchte nicht neunzig werden, sagte J. gestern am Telefon. Sie erzählte, dass sie rauchen würde und Alkohol tränke, dass sie den Augenblick leben würde, und das jeden Tag. Es hörte sich freudig vorsätzlich an. Sie wolle sich nicht schonen, lieber das Leben ausschöpfen, um früher zu sterben. Wer neunzig wird, sieht die anderen um sich sterben. Das wolle sie nicht. Ich kenne J. noch nicht lange, und war etwas überrumpelt. Ich dachte an Mamutschka, die schon über neunzig war. Ich dachte daran, dass es für uns Töchter, für die Enkelinnen und Urenkel*innen doch ausgesprochen schön war, sie noch am Leben zu wissen, sie bei uns zu haben. Ich wollte J. widersprechen, doch dann gab ich ihr Recht. Wie sie dachte, war okay.

Mein Schweizer Freund weigert sich zur Darmspiegelung zu gehen, und wenn er von seinem Tod spricht, ist er dabei immer fröhlich. Er gehört auch zu denen, die sich von der Pandemie nicht einschüchtern ließen. Er reiste trotzdem durch den Balkan, er traf sich trotzdem mit seinen Leuten. Er hielt uns Deutsche für neurotisch. Er bestand auf den Umarmungen, auf dem Händedruck, und er sah es auch nicht ein, dass die noch Jüngeren, um die Senioren zu schützen, sich voreinander abschotten sollten. Die Alten hatten gelebt und ihr Leben ausgekostet. Warum ließ man sie nicht sterben?

Was würde Mamutschka dazu sagen? Sie hat Anfang des Jahres ihren Neunzigsten gefeiert. Sie hat als Jubilarin Komplimente eingeheimst, vom indischen Pfarrer und dem jungen Bürgermeister, von ihren Alltags-Helferinnen, ihrer Putzfrau und ihrem Gärtner, von allen Gratulanten, die sie in Augenschein nahmen. Mamutschka mit silbergrauem Kurzhaar, einer neuen roten Brille und einer silbernen Kette. Was, Sie sind neunzig! Das glaubt doch keiner! Und wie rüstig Sie noch sind! Also wirklich, du siehst gut aus! Das blühende Leben! Mamutschka deutete Tanzschritte an, Mamutschka strahlte, Mamutschka saß unter ihren Gästen, ohne Nackenstütze. Es ist schön, so alt zu werden, du wirst bewundert und verehrt. Vielleicht wäre das am Geburtstag ihre Antwort gewesen. Danach jedoch kam die Talfahrt. Die Lebensmüdigkeit, zermürbende Schmerzen, die gerissenen Sehnen, wackelige Schritte, Einsamkeitsgefühle, alles kehrte zurück. Ihre Eltern sind tot, seit über vierzig Jahren, sie ist Witwe seit zehn Jahren, ihre sechs Geschwister sind alle begraben. Verstorben sind auch zwei Neffen. Der Tod ihres Katers, der Tod ihrer Freundin, beides liegt noch nicht lange zurück. Und immer wieder stirbt ein Mensch aus ihrem Dorf. Schon ein paar Mal sagte Mamutschka, dass sie gar nicht mehr wolle. Dass sie in einem Loch sei. Ein langes Leben zu haben, ist für sie ein Fluch, ein Segen nur noch an wenigen Tagen.

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