UA-66898233-1
Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Nicht genug

Zum Stück         Hörprobe       Produktion & Besetzung

 

„Und manche behaupten, es gäbe für jeden und jede Familie den passenden Tod.“

 

Den ersten Toten, den ich zu Gesicht bekam, war mein Opa mütterlicherseits. Ich war damals noch ein Kind und seinen aufgebahrten Leichnam in der Leichenhalle zu sehen, war für mich von naivem Interesse. Er sah ganz entspannt aus und machte den Eindruck, als wäre er nach seinem Leben jünger geworden. Ich war wohl traurig, aber nicht wirklich erschüttert, ich nahm sein Sterben einfach so hin. Als junge Erwachsene erlebte ich den Tod von mir bekannten oder befreundeten Menschen immer als ein unfassbares fundamentales Ereignis, das mich auf mich selber verwies. Ich war immer froh noch am Leben zu sein. Ich wollte es nutzen und meine Zeit endlich in vollen Zügen genießen. Das Leben lag vor mir, endlos, bis ich die Mitte dreißig erreichte. Dann rückte der Tod näher an mich heran und das Leben erschien mir kostbarer und kürzer, so dass ich mich mit seiner Unvollkommenheit anfreunden wollte. In dieser Zeit erkrankte eine geliebte Tante von mir an Krebs. Sie hatte noch wenige Woche zu leben, wurde nach Hause zum Sterben gebracht und mir war plötzlich klar, dass ich mich nicht mehr um diese Sache herum mogeln konnte. Ich besuchte meine Tante, setzte mich zu ihr ans Bett und hielt ihre abgemagerte, wunderschöne, weiche Hand. Ich wusste nicht wirklich Bedeutendes zu sagen, aber das war gar nicht schlimm. Ich war einfach nur da, konnte gar nichts falsch machen und wurde, wie es mir schien, auf eine neue Weise erwachsen. 2013 verstarb, nach längerer Krankheit, mein Vater. Wir hatten nicht immer ein gutes Verhältnis gehabt, aber ich hatte das große Bedürfnis, in seinen letzten Monaten so viel Zeit wie möglich bei ihm zu sein. Die Pflege, das Abschiednehmen und sein Sterben, das war ein mich fordernder, aber doch heilsamer Vorgang. Mein Vater ist immer leichter geworden und ich wurde freier und stärker. Sein Tod verlangte Demut und all meine Kraft, aber er hinterließ mich nicht sprachlos. Ich konnte mein Erleben endlich beschreiben.

 

Saarländischer Rundfunk und Radio Bremen 2014, Ur-Sendung am 19.10.2014, 17:04